Ich sollte weniger reden und mehr Kunst machen», sagt Ernesto Neto. Doch zu gern erzählt der graue Lockenkopf von seinen Herzensthemen. Vom Verhältnis zwischen Mensch und Natur und von der Selbstliebe. Klingt spirituell. Ist es auch.
Hat er viel gesprochen, verstummt er, schliesst die Augen und atmet tief ein und aus. Und wenn ihm nach Singen zumute ist, stimmt er ein Lied von seinen Freunden an, den Eingeborenen im Amazonas-Gebiet. Im Schneidersitz, mit gefalteten Händen und Kleidern in Grüntönen meditiert er mit Hilfe des rituellen Gesangs.
Ernesto Neto (54) ist einer der bedeutendsten Künstler Lateinamerikas. Ende Juni bringt er sein bisher grösstes und – wie er bei einem Atelierbesuch in Rio de Janeiro erzählt – schwierigstes Kunstwerk in die Schweiz. Einen Monat lang wird die Installation «GaiaMotherTree» im Zürcher Hauptbahnhof hängen, präsentiert von der Fondation Beyeler. Das Atelier von Neto liegt in einer etwas heruntergekommenen Gegend im alten Zentrum von Rio.
Der oberste Stock ist ein wunderschöner, lichtdurchfluteter Raum. Seine Arbeiten hängen von den Decken. Es sind textile Körper aus elastischen Geweben wie Nylon oder Lycra, die Neto wie sensible Häute um verschiedene Inhalte spannt. Durch den gefüllten Ballast hängen sie nach unten und erinnern an Damenstrümpfe.
«Jeder findet einen Zugang zu seinen Werken, dafür muss man kein Kunstkenner sein», sagt Sam Keller, Direktor des Beyeler-Museums, während er durch das Atelier des Künstlers streift. Keller ist nach Rio geflogen, um das gemeinsame Projekt der Kunstszene Brasiliens vorzustellen und um finanzielle Unterstützer zu akquirieren.
Bitte berühren! Was andere verbieten, zelebriert Neto
«Er ist ein charismatischer, sehr gescheiter Mann. Für mich hat er die Skulptur mit seinen sanften, fast weiblichen Formen neu erfunden», schwärmt der bekannteste Museumsdirektor der Schweiz. Das Spezielle: Man darf sie anfassen. Man muss sogar. Anstelle eines «Do not touch», wie man es sich aus Museen gewohnt ist, fordert Neto die Leute explizit auf, seine Arbeiten zu berühren. Neto will Interaktion.
Der Besucher soll sogar daran riechen, denn seine Werke befüllt er mit getrockneten Blättern und Gewürzen und appelliert damit an all unsere Sinne. Er will die Leute aus ihrer Hektik reissen, sie in eine harmonische Oase locken, wo sie ausatmen und entspannen. «Relax», wie er an diesem Nachmittag im Centro von Rio immer wieder sagt. Er selbst hat gerade Mühe, still zu sitzen. Mal spielt er mit einem Holzstab auf dem Xylophon, dann holt er ein Pack brasilianische Cracker, um sich kurz darauf mit seinem Handy in die Hängematte zu legen. Künstler halt.
Wobei er ursprünglich etwas anderes vorhatte: Klein Ernesto Saboia de Albuquerque Neto, wie er richtig heisst, wollte Astronaut werden. «Aber das ist doch kein Beruf», sagte seine Lehrerin. Sam Keller lacht und sagt: «Was hätte sie bloss zu Künstler gesagt!» Jetzt lachen beide.
Neto kümmert das nicht, er besuchte Astronomiekurse an der Uni, fiel aber durch alle Examen. Auch das beunruhigte ihn keineswegs – wir Menschen hätten zu grosse Angst, dass Dinge schiefgehen. Doch das sei normal. Seine damalige Freundin schleppte ihn in einen Töpferkurs: «Ich brauchte etwa drei Wochen für meine erste Skulptur. Danach wusste ich: Das will ich in meinem Leben machen.»
Heute spricht Neto am liebsten über die Huni Kuin. Er lebte einige Zeit bei der indigenen Bevölkerungsgruppe im brasilianischen Amazonas-Gebiet nahe der peruanischen Grenze, nahm an ihren rituellen Gesängen teil und trank mit ihnen Ayahuasca – einen psychedelisch wirkenden Pflanzensud aus der Liane Banisteriosis caapi, den er Tee nennt. Andere nennen es Droge.
Neto hat die Idee, zeichnet – aber fertigen tun andere
Neto hatte grosse Erleuchtungen und sich mit der Natur als vollständige Einheit gefühlt. Nach Hause in die Sechs-Millionen-Stadt nahm er ihre Weltanschauung mit und die Inspiration für eine neue Serie. Der Brasilianer schwor dem Plastik ab und arbeitet nun mit Stoffbändern aus Baumwolle. Die weissen Streifen werden gefärbt, dann in einer Fingerhäkeltechnik von Hand geknüpft. Anschliessend zu einer Skulptur zusammengeknotet. Acht Mitarbeiterinnen hat Neto.
Sie sitzen im Erdgeschoss des Gebäudes im Stadtteil Centro auf dem Boden und knüpfen die bunten Stoffbänder mit geschickten Handgriffen zu Mustern. Nur der Ventilator summt. «Small Business», sagt Neto. Hat ein Künstler Angestellte? Ist nicht er der Kreative, der seine eigene Eingebung genau so umsetzt, wie er sie sich vorher ausgemalt hat? Neto hat die Idee, zeichnet die Skizze, finalisiert am Computer – aber fertigen tun die anderen. «Ich kann knüpfen, aber langsam. Daher lasse ich die machen, die besser sind.» Alle zwei Jahre macht das Museum Beyeler ein Public-Art-Projekt, um Kunst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Damit hofft man, die Leute ins Museum zu locken – am besten natürlich ins Beyeler in Riehen.
Der Baum in Zürich wird 20 Meter hoch sein, dessen Krone die Decke der Bahnhofshalle bedecken, und an der Wurzel befindet sich ein grosser begehbarer Raum. «Social Hub», sagt Neto dazu. Es werden während des Monats verschiedene Kurse stattfinden. Meditation, Häkelkurs, Jodelaufführung.
Neto möchte, dass die Leute beim «GaiaMotherTree» verweilen, gerade wir in der westlichen Welt sollten eine Pause von unserem Leben einlegen. Gaia ist eine der ersten Gottheiten in der griechischen Mythologie – sie ist die personifizierte Erde. Was könnte besser zu Netos Arbeiten passen?
Professionelle Kletterer hängen die Mutter auf
Die Gottheit wartet seit längerem in einer Lagerhalle in Basel. «Wir mussten die einzelnen Teile aufhängen und imprägnieren lassen», erklärt Keller. Die Brandschutzvorschriften seien enorm. Sicherheit geht vor an einem Ort, an dem täglich 440 000 Menschen durchströmen. Aufgehängt wird die Mutter von professionellen Kletterern, bewacht von einem Security-Team.
In Rio sitzt Ernesto Neto auf einer Bühne. Künstlergespräch. Er trägt eine seiner Arbeiten auf dem Rücken. Eine Art grüner, geknoteter Schildkrötenpanzer. Er soll ihn vor den Rückenklopfern der Gäste schützen. «Typisch Neto», sagt Keller. «Anstatt den Leuten zu sagen, sie sollen es lassen, erscheint er mit so einem Teil.» Neto lässt eben jeden machen, wie er will.
Er will am liebsten über seine Freunde, die Hui Kuni, sprechen. Und wenn er nicht mehr mag, schliesst er die Augen und singt wieder das Lied der Amazonas-Eingeborenen. Am Ende des Abends werden die einen Gäste urteilen: Der ist total abgespact, Künstler eben. Andere werden sagen: Er spricht mir aus dem Herzen.
Neto ist auch Geschichtenerzähler. Am Ende haben alle seine Erzählungen dieselbe Botschaft: Wir sollen die Natur mehr respektieren und auf unser Herz hören. Klingt vielleicht zuerst banal, aber spätestens wenn man sich von Neto verabschiedet und über die Worte nachdenkt, weiss man, er hat recht.
Ernesto Neto, «GaiaMotherTree», 30. Juni bis 27. Juli, Zürich Hauptbahnhof