Besuch in der Alters-WG
Ganz schön verstrickt: Die Senioren-WG

Einsamkeit und die Corona-Isolation sind gravierende Probleme im Alter. Ein möglicher Ausweg: eine Senioren-WG. Wir haben eine besucht.
Publiziert: 22.11.2020 um 11:15 Uhr
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Aktualisiert: 25.02.2021 um 07:49 Uhr
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«Bald ist ja schon wieder Weihnachten», sagt Verena. In der WG gibt es ganze Kartons voller Dekoration für jede Saison.
Foto: Lea Ernst
Lea Ernst

Rita (77) ist das WG-Küken. Es ist ihre vierte Woche in der betreuten Wohngemeinschaft Bahnmatt. Gerade hat sie wieder angefangen zu stricken, zum ersten Mal seit 40 Jahren, aber das «cheibe Aaschla», also das Anschlagen der Maschen, will ihr einfach nicht gelingen. «Stricken ist jetzt wieder richtig in», sagt ihre neue Mitbewohnerin Marie Louise (71), die Rita dazu inspiriert hat, wieder zur Nadel zu greifen. Fünf Senioren teilen in der WG in Baar ZG ihr Wohnzimmer, ihre Dusche, ihre Freuden ebenso wie ihre Leiden: Rita, Marie Louise, Heidy (68), Theo (72) und Verena (71).

Das erste Mal in einer WG: Was bringt die Seniorinnen und Senioren dazu, diesen einschneidenden Schritt in einem Alter zu wagen, das nicht mehr gerade für pure Abenteuerlust und Ämtliplan bekannt ist? Gemäss Johannes Kleiner (62), dem Geschäftsführer der Altersheime Baar, besteht zwischen dem Einzelhaushalt und dem Altersheim eine Angebotslücke. Deshalb hat er vor drei Jahren auf dem Grundstück des Altersheims Bahnmatt die Senioren-WG gegründet. Denn das Altersheim gelte als Auslaufmodell: «Viele ältere Menschen können zwar noch frei über ihr Leben bestimmen und wollen noch nicht in ein Heim», sagt er. «Aber wegen psychischer Krankheiten oder dem Verlust des Lebensgefährten wollen sie auch nicht mehr allein wohnen.»

So war es auch bei Rita. Bei ihr kam alles auf einmal: der Verlust ihres Ehepartners, eine Operation und dann auch noch die Corona-Isolation. Plötzlich war sie allein. Und ihr Leben funktionierte nicht mehr. «Meine Enkelkinder waren immer einer meiner Lebensmittelpunkte», sagt sie. Wegen Corona sei plötzlich auch der weggebrochen. «Und das tut weh.» Nun kocht sie nicht mehr für ihre Enkel, sondern wird bekocht. Theo, ihr neuer Mitbewohner, holt gerade wie jeden Mittag und Abend das Wägeli mit dem WG-Essen aus dem Restaurant des Altersheims. Das ist sein Ämtli.

Die Warteliste ist lang

«Unsere Senioren-WG ist eine der wenigen, die funktionieren», sagt Leiterin Aktivierung & Bettendispo der Altersheime Baar, Esther Pellegrini. Sie hat viel zur Planung und Umsetzung der WG beigetragen und ist auch heute eine wichtige Betreuungsperson für die Bewohner.

In einer WG besteht nicht nur bei jüngeren Leuten viel Konfliktpotenzial. «Wir haben uns zuerst vorgestellt, dass alle immer gemeinsam kochen. Doch das wurde viel zu kompliziert», sagt sie. Und da die WG sowieso direkt am Altersheim angesiedelt sei, könne das Essen gleich von dort übernommen werden. «Wir achten zudem sehr genau darauf, wer in die WG passen könnte.», sagt Pellegrini. Die Warteliste sei lang, weshalb sie und Geschäftsführer Johannes Kleiner bereits über eine zweite Alters-WG sprächen.

Die WG Bahnmatt sitzt mittlerweile gemeinsam am grossen Holztisch. Hier haben sie schon viele schöne Momente erlebt. Wie das Lotto vor einigen Wochen, bei dem Theo fast alle Gewinne abgesahnt hat. «Sogar den Nagellack hättest du um ein Haar genommen», sagt Heidy und kichert, die Stimmung ist ausgelassen. Die Lotto-Runde hat die Pflegerin Immacolata Dalla Costa-Fruci für sie organisiert. Drei Stunden am Tag ist sie oder eine andere Pflegerin jeweils in der WG, kümmert sich um ihre Bewohner und putzt die Gemeinschaftsräume, sechs Tage die Woche. «Nur am Sonntag haben wir auch mal etwas Ruhe», sagt Theo. Für ihr WG-Zimmer zahlen die Bewohner 84 Franken am Tag, also etwa 2500 Franken im Monat.

Nathan, der WG-Hund, hält ein Mittagsschläfchen, während die Seniorinnen und Senioren Dessert essen. «Jede Woche backe ich ein neues Rezept», sagt Heidy, diese Woche ist es ein Kürbiskuchen. «Die Wohnform der WG entstand für unsere Bewohner aus verschiedenen Notsituationen heraus», sagt Pellegrini. Doch in den drei Betriebsjahren hätten sie sich alle stabilisieren und wieder an Lebensqualität gewinnen können. Der grosse Vorteil ist, dass die WG trotzdem alle Angebote des Altersheims nutzen kann. So kommen Rita und Marie Louise soeben aus der Morgengymnastik, Theo leitet als ehemaliger Pädagoge die wöchentliche Literaturdiskussion, und Verena geht gerne zum Coiffeur gleich um die Ecke. Marie Louise, Heidy und Rita haben sogar einen Strick-Klub gegründet – sie produzieren Socken, Schals und Pulswärmer und verkaufen sie in der Cafeteria.

«Man muss offen und tolerant sein»

Die Bewohner des Altersheims schauen oft vorbei. «Unsere Türe steht meistens offen, darum stecken sie im Vorbeigehen ihren Kopf rein, sagen Hallo oder streicheln Nathan, unseren WG-Hund.» Ihre beiden Schwestern seien zuerst skeptisch gewesen, doch mittlerweile kämen sie gerne auf Besuch. «Man muss offen und tolerant sein», sagt Heidy. Bei Heidy im Zimmer findet man eine Bastelecke. Bei Marie Louise bestechen blumige Pastellfarben, die perfekt zu ihrem Outfit passen. Theo mistet gerade aus, es haben sich viele Ordner und Texte angesammelt. Verena liegt die Liebe zum Detail am Herzen, von der Schneekugel bis hin zum geblümten Morgenrock. Die vier teilen sich die Dusche, was bis jetzt noch absolut keine Probleme bereitet habe. Nur Rita, das WG-Küken, hat ein eigenes Badezimmer.

Nach dem Abendessen versammelt sich die WG jeweils auf den Sofas im Wohnzimmer. Gemeinsam schauen sie fern, meistens die «Tagesschau» oder auch mal die «Arena». «Es ist schön, die Themen danach gemeinsam zu diskutieren», sagt Theo. Wie die anderen, ausser Rita, ist er seit der WG-Gründung vor drei Jahren hier. Er litt unter Depressionen. «Es gehört halt auch dazu, sich gemeinsam zu unterstützen, wenn es jemandem nicht gut geht», sagt Marie Louise. «Aber wir sind hier eine Familie.» Rita sei jedoch nur vorübergehend hier. «Bis ich mir wieder zutraue, in meine Wohnung zurückzukehren», sagt sie. Theo lacht und meint: «Warte nur, am Schluss willst du gar nicht mehr weg von hier.»

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