Rose Marie W*. ist einundachtzig Jahre alt. Und, wie sie versichert, im vollen Besitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte. Man glaubt ihr das sofort: Die Augen wach, die Haltung gerade, die Gedanken klar. Weder schweift sie ab, noch wiederholt sie sich, ab und zu lässt sie einen Scherz einfliessen – oder einen ernsten Hinweis.
«Ich kam ins Heim, um in Ruhe zu sterben», sagt die gebürtige Berlinerin – vier Kinder, elf Enkel. Vor fünf Jahren zog sie aus ihrer Dreizimmerwohnung in ein Stadtzürcher Alterszentrum, damit sie ihre Kinder nicht belastet, wenn sie zum Pflegefall wird.
Rose Marie W. hat genaue Vorstellungen, was Gemeinschaft für sie bedeutet. Vor 25 Jahren lebte sie in einem internationalen Ökodorf der Findhorn-Stiftung in Brasilien, einer spirituell organisierten Kommune, in der mehrere Generationen nachhaltig zusammenwirken.
Die Realität im Zürcher Alterszentrum war anders: «Der Gemeinschaftssinn fehlt hier völlig.» Die Hälfte der Bewohner, so schätzt sie, sei kognitiv eingeschränkt. Grund sind zumeist Krankheiten wie etwa Alzheimer. Dazu kämen Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Ihr fehlte der rege Austausch, die Freude am Zusammenleben.
Konsum und Bespassung im Vordergrund
Wenn Rose Marie W. Zeit hat – was selten vorkommt, weil sie unter anderem als freiwillige Helferin, als Vorleserin und als Sterbebegleiterin viel auf Achse ist – wäscht und putzt sie selber. Viele Bewohner des Heims dagegen, sagt sie, sitzen leider nur noch in ihren Zimmern: «Wenn ich mich so zurückziehe, werde ich depressiv.»
Am schlimmsten aber findet sie, dass so die «vielen Ressourcen, die jeder Mensch ins Heim mitbringt», ungenutzt bleiben: «Wir erfahren erst bei der Abdankung davon.» Stattdessen stünden Konsum und Bespassung im Vordergrund.
Ihr ist es nicht egal, was die anderen denken und fühlen. Und was sie selbst empfindet, sagt sie laut und deutlich: «Ich will dieses System nicht mehr unterstützen!»
Irgendwann im Leben spürt wohl jeder Mensch, dass das Mass voll ist. «Mit der Zeit ging es mir auch gesundheitlich immer schlechter. Ich spürte: Wenn ich im Heim bleibe, mache ich den Schirm zu», sagt sie.
Wirtschaftlichkeit und Ablauf sind wichtig
Ein paar Sonnenstrahlen kämpfen sich zwischen die Regenwolken und scheinen auf den prächtigen Park, den die Rentnerin wohl bald vermissen wird. Denn sie entschied sich für einen neuen Lebensabschnitt. Raus aus dem Heim, rein in die Alters-WG. Dieses Wochenende ist es so weit: «Ich gehe aber nicht im Ärger.»
Im Heim stünden einfach die Wirtschaftlichkeit und der technisch getaktete Ablauf im Vordergrund. «Erst dann kommt der Mensch», sagt sie und nennt es «eine Roboterisierung». In der Pflege sei der Zeitmangel spürbar, dazu komme eine neue grössere Distanz durch die Masken. Die Heimleitung habe ihr Möglichstes getan, müsse aber am Ende umsetzen, was die Politik anordne.
«Uns wurde die Freiheit genommen»
Diesen Sommer präsentierte die Stadt Zürich ihre neue Altersstrategie. Statt Alterszentren setzt sie künftig auf betreutes Wohnen – etwa in Alterswohnungen, Alters-WG oder mit Spitex-Diensten. Das klassische Heim ist hauptsächlich für pflegebedürftige Menschen gedacht. «Wenn aber nur noch Pflegebedürftige da sind, schränkt das die Gemeinschaft ein», sagt Rose Marie W. Ginge es nach ihr, würde man mehr auf Kleingruppen setzen und einen Sozialdienst installieren, weil die Pflege diesen zwischenmenschlichen Aspekt nicht übernehmen könne.
Gelegentlich sagten ihr Freunde, dass sie im Heim nicht am richtigen Ort sei. Der Lockdown habe ihr klar gemacht, wie sehr das stimmt. «Uns wurde die Freiheit genommen, was eine Entmündigung war», sagt sie. Die Tendenz dazu sei schon vorher da gewesen, Corona habe sie nur noch verstärkt. Nur der Gang in den Park blieb den Senioren gestattet. Für den achtminütigen Fussweg zu einem Therapeuten ausser Haus habe man ihr einen Zivildienstleistenden an die Seite gestellt. Wäre sie alleine gegangen, hätte sie in Quarantäne gemusst. Sie erzählt das nicht verbittert. Sie wundert sich nur.
Jetzt lebt sie in einer Wohngemeinschaft
Auch Besuche waren verboten. Vielleicht seien manche Angehörige ganz froh darüber gewesen, vermutet sie. «Für die Bewohner war es aber sehr belastend.»
Einige seien wegen der fehlenden Nähe depressiv geworden. Einmal schlich Rose Marie W. im Lockdown hinaus, wegen dringender Post. Sie habe sich wie ein aufmüpfiger Teenager gefühlt. Mehr verrät sie nicht, schaut aber keck.
Ab sofort wohnt sie mit drei Pensionärinnen in einer Wohngemeinschaft am Zürichberg. Die Damen haben sich bereits kennengelernt – zusammen Zwetschgenkuchen gebacken und gemeinsam den Abwasch besorgt. Neulich stieg ihre erste Feier mit Gästen.
Sie spüre wieder kreative Energie, sagt Rose Marie W., die sich auch gesundheitlich wieder gut fühlt. Natürlich werde die Alters-WG nicht der Himmel auf Erden sein. Aber die Seniorin freut sich «auf eine lebendige Gesellschaft und auf das richtige Leben».
* Name bekannt