In den Alters- und Pflegeheimen hat das Coronavirus eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Keinen Bereich der Gesellschaft traf die erste Infektionswelle härter: Mehr als die Hälfte der Covid-Opfer aus Winter und Frühjahr starben in Institutionen.
Schleppt jemand das Virus in eine solche Umgebung ein, breitet es sich rasch aus. Mit fatalen Folgen, wie neuere Fälle in Siviriez FR und Bulle FR sowie Elgg ZH zeigten: In drei Heimen wurden 117 Menschen infiziert, acht starben. Das hohe Alter und ein geschwächtes Immunsystem tragen zur Sterblichkeit bei: Gemäss Angaben des Bundes endet eine Corona-Infektion bei 27,5 Prozent der über 80-Jährigen tödlich.
Wegen Corona nicht ins Heim eingetreten
Solche Zahlen beunruhigen auch Senioren, die einen Heimeintritt ins Auge fassen, und deren Angehörige. Die Aussichten sind tatsächlich ungewiss: Wer nicht zwingend in ein Alters- oder Pflegeheim wechseln muss, tut es momentan auch nicht. «Viele bereits angemeldete Personen sind aufgrund der Covid-Krise nicht eingetreten oder haben den Eintritt aufgeschoben», teilt der Dachverband der Schweizer Heime Curaviva auf Anfrage von SonntagsBlick mit.
Das Zögern vieler Senioren hat unmittelbare Auswirkungen auf die Institutionen selber: Die Belegung ging im ersten Halbjahr landesweit um drei Prozent zurück, wie der Dachverband durch eine Umfrage bei 400 Heimen festgestellt hat.
Peter Burri von Pro Senectute sagt: «Aufgrund der Demografie müsste die Anzahl der Heimeintritte jedes Jahr steigen oder zumindest gleich bleiben.»
Belegung ging um drei Prozent zurück
Normalerweise melden die Schweizer Heime Belegungsziffern um 93 Prozent. Aber 2020 ist nichts normal. Der aktuelle Rückgang markiert den grössten Ausreisser der vergangenen Jahre.
«Wenn der Belegungsgrad weiter zurückgeht und irgendwann zu tiefe Werte erreicht, haben die Heime ein finanzielles Problem», erklärt Markus Leser, Leiter Fachbereich Menschen im Alter bei Curaviva. Dies sei auch ein Grund dafür, dass die Branche über Alternativen zur klassischen Pflegestation nachdenke, etwa betreutes Wohnen oder individuelle Tagesangebote.
Ebenfalls mit einem Rückgang von drei Prozent rechnet der Dachverband bei den Pflegetagen. Drei Prozent weniger entspricht einer Million Tage Pflege, die im Corona-Jahr nicht bezogen wurden.
«Grössere Zurückhaltung als üblich»
Die Spitex kann derzeit noch keine genauen Angaben darüber machen, was die neuste Entwicklung für die Pflegedienste bedeutet.
Curaviva-Fachbereichsleiter Leser versteht die abwartende Haltung vieler Betagten und ihrer Angehörigen. Der Heimeintritt sei schon immer ein Schritt gewesen, der gründlich überlegt sein wollte: «Corona verunsichert nun zusätzlich, die Krise wirkt verschärfend auf diesen Entscheid ein.»
Auch Peter Burri von Pro Senectute erlebt «bei den Senioren und Angehörigen derzeit in allen Dingen eine grössere Zurückhaltung als üblich».
Felix Huber hat Verständnis dafür, dass die Grossmütter und Grossväter derzeit nicht ins Heim wollen. Der Arzt ist Mitverfasser einer Studie für die Covid-Taskforce des Bundes über die Betreuung Betagter und Hochbetagter. Huber vermutet, dass deren Zurückhaltung mit dem «rigorosen Wegsperren» der Betagten während der Lockdowns zu tun hat: «So etwas darf nie mehr passieren. Wer wählt denn schon freiwillig einen Aufenthalt in Gefangenschaft und Isolation?»
Besuchsverbote keine mehr die Lösung
Die Massnahmen des Bundes trafen Senioren doppelt: Zur Gefahr einer Ansteckung kam das Elend der Isolation, die viele in den Heimen verwirrt, verängstigt und verzweifelt zurückliess. Bei der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA) gingen 127 Beschwerden über das Lockdown-Regime ein.
Die Furcht vor erneuten Einschränkungen ist daher gross. Epidemiologen warnen seit längerem, dass zur Corona-Pandemie bald die Grippesaison hinzukomme, die alte und kranke Personen noch einmal besonders gefährde.
Nun hat der Herbst begonnen. Und damit die Gefahr, dass sich die fatale Notlage des Frühjahrs wiederholt. «Besuchsverbote, wie sie in der ersten Welle ausgesprochen wurden, sollten nicht mehr die Lösung sein», versucht Curaviva-Mann Leser zu beruhigen: «Damals wurden wir von der Krise überfahren, das wollen wir künftig unbedingt verhindern.»
Man verfüge jetzt über nationale und kantonale Schutzkonzepte. Am Ende jedoch müsse jedes Heim diese individuell auf seine Situation vor Ort anpassen können.
Studien-Co-Autor Huber ist überzeugt, dass es derzeit nicht um Fragen der Sicherheit gehe, sondern um jene der Freiheitsberaubung. «Die Alters- und Pflegeheime müssen jetzt beweisen, dass sie mit der Corona-Pandemie differenziert umgehen können», meint er. «Und dass sie das Besuchsrecht unter allen Umständen aufrechterhalten.»
Nun erlebt die Schweiz gerade das erste kalte und nasse Herbstwochenende. Die Heime harren der Dinge, die in der kalten Jahreszeit auf sie zukommen. Und die Senioren warten derweil still zu Hause ab.
Wer wollte es ihnen verübeln?