Editorial über Löwen und Exporte
Die wahre Gefahr wird übersehen

Während wir eine nicht existente Grosskatze jagen, verdrängen wir die tatsächliche Bedrohung – das harzige Wirtschaftswachstum.
Publiziert: 23.07.2023 um 05:00 Uhr
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Aktualisiert: 22.07.2023 um 23:34 Uhr
Die Berliner Polizei auf der Spur der Löwin, die sich als Wildschwein entpuppte.
Foto: DUKAS
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Nun ist die vermeintliche Löwin also doch keine, wie wir seit vorgestern wissen. Von Donnerstag an haben die deutschsprachigen Turbo-Medien – auch jene aus dem Haus Ringier – mithilfe der Berliner Polizei zur Jagd auf eine Grosskatze geblasen, die sich schliesslich als Wildschwein entpuppt hat. Was für ein Spektakel; Brot und Spiele mildern das Sommerloch.

Das Muster dieser Juli-Operette ist zeitlos: Die Menschen ergötzen sich an einer erfundenen Gefahr (früher waren das Hexen, Geister oder Drachen). Die tatsächliche Bedrohung hingegen schlummert unbemerkt unter ihnen – wie einst Kartoffelkäfer, Mutterkorn oder Pesterreger. Heute ist das verdrängte Unheil nicht mehr ganz so brachial wie dannzumal, es lauert anderswo: in den Zahlen zur wirtschaftlichen Lage. Die Zeichen am Himmel lassen Ungutes erahnen.

Die ETH-Konjunkturforschungsstelle senkt ihre Prognose für die Schweizer Volkswirtschaft zum dritten Mal in Folge. «Aussichten weiterhin getrübt», schreiben die Ökonomen in ihrem Barometer. Als Grund nennen sie die sinkende Auslandsnachfrage. Direkt betroffen ist die Schweizer Exportindustrie. Dazu macht die Zinsbremse der Zentralbanken dem Bausektor zu schaffen.

Erste Konsequenzen werden sichtbar: Diese Woche haben der Gebäudezulieferer Arbonia und der Textilmaschinenhersteller Rieter den Abbau von bis zu 1500 Stellen angekündigt. Und da sind noch die 35'000 Credit-Suisse-Jobs, die bis im Herbst gestrichen werden könnten. Rettung aus Fernost ist für den Standort Schweiz bislang nicht in Sicht – China bewegt sich so langsam wie die gesamte Weltwirtschaft.

Was lernen wir daraus? Auch die Wildsau, die für eine Löwin gehalten wurde, ist letztlich nur ein Phantom – das Borstenvieh dient der sommerlich-leichten Realitätsflucht vor dem Fakt, dass die hiesige Wirtschaft nicht so recht vom Fleck kommen will und ein unterdurchschnittliches Wachstum von 1,1 Prozent verzeichnet.

In Deutschland ist die verdrängte Malaise noch grösser: Europas Lokomotive steckt hartnäckig in einer Rezession. Die sozialen Folgen werden, wie immer, erst verzögert spürbar werden.

Angesichts dieser Entwicklung erstaunt das Leisetreten der Parteien zu diesem Thema. Statt mit Lösungsansätzen überbieten sich viele Politiker lieber mit Wahlkampf-Gags. Oder machen sich über Löwen-Artikel lustig.

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