In der Blick-Serie «Grün und Günstig» zeigen Menschen aus der Schweiz, wie sie ihren Alltag in Bereichen wie Essen, Kleider, Reisen oder Einrichten nachhaltig konsumieren. Ganz ohne dafür viel Geld in die Hand zu nehmen.
Auberginen, Salat, Tomatensuppe, Süsskartoffeln, Rüebli – Alexandra Fischer-Rufs (54) Küchenablage quillt über mit Essen. Bezahlt hat sie für die Ware: null Franken. Wie kann das sein? «Ich bin Lebensmittelretterin aus Überzeugung», sagt die Sozialarbeiterin, während sie für das Mittagessen eine Bio-Zucchetti halbiert. Mit einer Taschenlampe zwischen den Zähnen in einen Container steigen musste sie dafür nicht: «Ich hole Esswaren, die bald ablaufen oder das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben, ganz legal in Läden in der Region Zofingen ab.»
900 Kilogramm gerettetes Essen pro Woche
Alexandra Fischer-Ruf rettet das Essen mit anderen Freiwilligen nicht primär für sich, sondern für andere Menschen. «Die Menge an Essen, die wir bekommen, ist unglaublich. In einer Woche haben wir über 900 Kilogramm Ware gerettet.» Die Einsätze finden oft nach Ladenschluss statt und können gerade bei Detailhandelsketten stundenlang dauern. Denn die Retter, die in einem Verein organisiert sind, schauen sich die Ware genau an und sortieren Faules aus. «Der Klassiker ist ein Netz Mandarinen, in dem eine Mandarine faul ist. Das matschige Obst werfen wir in die Biogastonne und das gute nehmen wir mit», sagt Alexandra Fischer-Ruf.
Gratis-Essen ohne Armutsbeleg
Nach der Abholung wird die Ware geordnet und verteilt. Der Ort für die Verteilung ist die «Choschtbar». Ein Kiesplatz mit Wellblechdach in der Zofinger Altstadt. Jeden Wochentag warten hier 30 bis 70 Menschen darauf, sich kostenlos mit den geretteten Lebensmitteln einzudecken. Essen mitnehmen darf jeder. «Unser oberstes Ziel ist es, Lebensmittelverschwendung zu bekämpfen und nicht Bedürftigen zu helfen», sagt Fischer-Ruf. Aber: «Niemand wartet zum Spass in einer so langen Schlange.» Viele, die zur «Choschtbar» kommen, sind von Altersarmut betroffen, haben einen Fluchthintergrund oder sind «Working Poor» – Menschen, die trotz Arbeit in Armut leben.
Zusammenarbeit mit Hilfswerk
Eine Konkurrenz mit Hilfswerken gäbe es nicht, im Gegenteil: Der Verein arbeitet mit Organisationen wie «Tischlein deck dich» zusammen. Die Zofinger Retter springen dort ein, wo sich für die Hilfsorganisation die Abholung mit dem Lieferwagen nicht lohnt, weil die Ladekapazität nicht ausgeschöpft werden kann.
Eigene Erfahrung mit Sozialhilfe motiviert
Alexandra Fischer-Ruf hat früh erfahren, wie es sich anfühlt, wenn die eigene Existenz bedroht ist. Ihre Mutter war alleinerziehend und brauchte immer wieder Sozialhilfe, wenn die Alimente des Vaters ausblieben. «Meine Geschichte hat mich geprägt. Sie ist ein Grund, warum ich mich sozial engagiere», sagt sie. Pro Woche arbeitet sie acht bis zwölf Stunden ehrenamtlich für das Projekt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie nichts für den Verein erledigt.
Ihr Partner Andi Fischer-Ruf (58) ist mittlerweile auch ein Essensretter: «Ich bin nicht so der Vereinstyp, aber ich unterstütze das Projekt sehr gerne.» Er fährt oft mit seinem Velo-Anhänger zu Bäckereien, um Brot, Cremeschnitten und Kuchen zu retten. Das Paar versucht, auch andere Lebensbereiche nachhaltig zu gestalten: In die Ferien fliegen Fischer-Rufs sehr selten.
Mehrgang-Menü für null Franken
Alexandra Fischer-Ruf betont, dass es ihr beim Retten von Essen in erster Linie nicht ums Geldsparen geht. Die Wertschätzung für die Umwelt und Lebensmittel steht im Vordergrund. Sie ist stolz darauf, dass das heutige Mittagsessen nur aus Gerettetem besteht. Einzig eine faule Avocado landet im Kompostkübel statt Salat. Bei ihr kam die Rettung zu spät.
Die passionierte Köchin tischt reich auf: Salat, Tomatensuppe, mit Tom-Käse überbackenes Ofengemüse. Zum Dessert gibt es ein grosses Stück Schwedentorte. «Es ist so toll, was man alles aus gerettetem Essen zaubern kann. Das Sparen ist ein schöner Nebeneffekt.»
Seit Jahren kein Brot mehr gekauft
Im März hat die Sozialarbeiterin für sich und ihren Mann 200 Franken für Nahrungsmittel ausgegeben. Das ist etwa dreimal weniger als üblich: Laut Bundesamt für Statistik zahlt ein Zweipersonen-Haushalt durchschnittlich 650 Franken pro Monat für Lebensmittel. «Wie viel ich in anderen Monaten ausgebe, ist schwer zu sagen, es waren auch schon über 500 Franken.»
Brot hat Fischer-Ruf seit Jahren nicht mehr gekauft und kaum Obst und Gemüse. «Am häufigsten kaufe ich für mich und meinen Mann Milchprodukte, Eier und Fleisch», sagt die Aargauerin. Bei diesen Posten gebe es Sparpotenzial: «Dafür gebe ich sicher mehr als der Durchschnitt aus, weil ich oft direkt ab Hof und bio kaufe.» Bei ihrer Kochplanung habe Fischer-Ruf eine grosse Umstellung gebraucht. «Früher habe ich zuerst an ein Rezept gedacht und bin dann einkaufen gegangen. Heute habe ich die geretteten Lebensmittel vor mir und erst dann denke ich an ein Rezept.»
Über zwei Millionen Schweizer essen gerettete Lebensmittel
Essen vor dem Abfall zu retten ist in den letzten Jahren massentauglich geworden. Fast in der ganzen Schweiz gibt es Resteessbars wie die «Choschtbar» oder öffentliche Essenschränke wie die von Madame Frigo oder Foodsharing Schweiz. Der grösste Anbieter von gerettetem Essen «Too Good To Go» macht mit den Resten ein Geschäft. Essenspakete können in einer App reserviert und stark verbilligt direkt in den Läden abgeholt werden. Die Ware kostet mindestens 60 Prozent weniger als der ursprüngliche Verkaufspreis. In der Schweiz nutzen 2,1 Millionen Menschen die App des dänischen Tech-Unternehmens aktiv.
Neues Verteil-Lokal gesucht
«Wir sind keine ideologischen Hardliner, die nur Reste essen. Wir mischen Reste mit Neuem», sagt Andi Fischer-Ruf bei der Verabschiedung. «Das stimmt», sagt Alexandra Fischer-Ruf. Was sie sich für die Zukunft wünscht, weiss die Vereinsvorständin der «Choschtbar» genau: «Es wäre schön, wenn Essen wieder so wie in meiner Kindheit geschätzt wird. Essen gehört auf den Teller und nicht in den Abfall.» Unterstützen kann man die Arbeit von Fischer-Ruf mit Spenden an den Verein oder einem Tipp für ein neues Verteillokal mit Strom- und Wasseranschluss.
Jeden Tag landet laut einem Bericht des Uno-Umweltprogramms eine Milliarde Mahlzeiten auf dem Müll, die noch essbar wären. 60 Prozent davon stammt aus Privathaushalten. Restaurants und Kantinen standen für 28 Prozent der Verschwendung, Supermärkte und Lebensmittelfachgeschäfte für 12 Prozent.
Es werde viel Essen weggeworfen, sobald das Haltbarkeitsdatum überschritten sei, obwohl es noch geniessbar sei. Besonders in Entwicklungs- und Schwellenländern würden oft Nahrungsmittel entsorgt, weil es keine Kühlmöglichkeiten gebe, betonte der Bericht. Für Unternehmen sei es im Normalfall «günstiger und schneller», Lebensmittel zu vernichten und neu zu produzieren, als in nachhaltige Alternativen zu investieren.
Laut den Studienautoren ist Food Waste für 8 bis 10 Prozent der jährlichen globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Dies ist fast das Fünffache der Emissionen des Luftfahrtsektors.
Foodwaste in der Schweiz
In der Schweiz geht jedes dritte Lebensmittel zwischen Acker und Teller verloren. Laut einer ETH-Studie von 2019 sind dies pro Jahr rund 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel. So fallen in der Schweiz pro Person jährlich 330 Kilogramm vermeidbare Lebensmittelabfälle an.
Die Lebensmittelkategorien mit der grössten Umweltwirkung pro Kilogramm Lebensmittelverlust sind laut Bundesamt für Umwelt: Fleisch, Kaffee- und Kakaobohnen, Butter, Eier, eingeflogene Produkte, Öle und Fisch und Käse.
Jeden Tag landet laut einem Bericht des Uno-Umweltprogramms eine Milliarde Mahlzeiten auf dem Müll, die noch essbar wären. 60 Prozent davon stammt aus Privathaushalten. Restaurants und Kantinen standen für 28 Prozent der Verschwendung, Supermärkte und Lebensmittelfachgeschäfte für 12 Prozent.
Es werde viel Essen weggeworfen, sobald das Haltbarkeitsdatum überschritten sei, obwohl es noch geniessbar sei. Besonders in Entwicklungs- und Schwellenländern würden oft Nahrungsmittel entsorgt, weil es keine Kühlmöglichkeiten gebe, betonte der Bericht. Für Unternehmen sei es im Normalfall «günstiger und schneller», Lebensmittel zu vernichten und neu zu produzieren, als in nachhaltige Alternativen zu investieren.
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Die Lebensmittelkategorien mit der grössten Umweltwirkung pro Kilogramm Lebensmittelverlust sind laut Bundesamt für Umwelt: Fleisch, Kaffee- und Kakaobohnen, Butter, Eier, eingeflogene Produkte, Öle und Fisch und Käse.