Noch hält SVP-Gemeinderat Stefan Urech den Passanten, der auf seinen Wahlkampfstand am Zürcher Limmatplatz zugeht, für einen interessierten Bürger. Doch dann zückt der junge Mann seine Waffe – einen Filzstift – und beginnt auf das Wahlplakat eines Parteikollegen von Urech zu kritzeln. Als er mit seinem Werk fertig ist, lächelt er und geht weiter. In schwarzer Tinte prangt auf dem Plakat ein Hakenkreuz – direkt auf der Stirn des SVP-Kandidaten. «Für mich war das schlimmer als jede Gewaltandrohung», sagt Urech.
Der Kompromiss ist so schweizerisch wie die Schoggi und die Alpen. Er ist insbesondere wichtiger Teil der Politik unseres Landes. Zum Beispiel bei Gegenvorschlägen – zwei Wochen Vaterschaftsurlaub statt vier oder bilaterale Verträge statt EU-Beitritt. Diese nehmen Anliegen auf, aber gehen oft nicht so weit, wie es die Initianten und Initiantinnen möchten. Auch die Zauberformel im Bundesrat ist ein Mittelweg zwischen den Parteien, der nur auf einer Abmachung und keinem Gesetz basiert.
Doch nun scheint genau diese Kompromissbereitschaft in Gefahr: Die Schweiz sei gemäss Studien eines der polarisiertesten Länder Europas, sagte Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann letzte Woche im Interview mit dem SonntagsBlick Magazin. Auch die Wahlstudie Selects von 2019 von der Universität Lausanne deutet auf eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft hin. Sie zeigt, dass sich seit 1979 immer weniger Wählerinnen und Wähler der politischen Mitte zuordnen, dafür gibt es immer mehr, die sich als «Linke» oder «Rechte» fühlen.
Dies macht der Schweizer Bevölkerung Sorgen: Laut dem aktuellen SRG-Wahlbarometer ist die zunehmende Polarisierung für 42 Prozent der Wählenden eines der grössten Ärgernisse im Land. Noch mehr Unbehagen lösen nur die CS-Krise, die Klimakleber und die Gender-Debatte aus.
In der Minderheit
Wie steht es wirklich um die Toleranz für die Haltung der Gegenseite? Wie um den Respekt für Ansichten fern von den eigenen? Wir haben eine Politikerin und einen Politiker getroffen, die beide täglich mit Andersdenkenden zu tun haben, und wollten wissen, wie sie die Polarisierung erleben.
Die 44-jährige Nadja Stadelmann ist Vizepräsidentin der SP im Kanton Luzern und kommt aus der Gemeinde Werthenstein LU im Entlebuch. Dort sitzt sie unter anderem in der Bürgerrechtskommission. Bei den Kantonsratswahlen 2023 wählten in Werthenstein 47 Prozent der Bevölkerung die SVP. Die beiden linken Parteien Grüne und SP erhielten lediglich etwas über 10 Prozent der Stimmen, während die restlichen vor allem an FDP und die Mitte gingen.
Ihr rechtes Pendant ist der 36-jährige Gemeinderat Stefan Urech, der im Zürcher Wahlkreis 4 und 5 lebt. Hier wählten bei den kantonalen Wahlen letztes Jahr 64 Prozent die Grünen, die SP oder eine der kleineren linken Parteien. In keiner Gemeinde der Schweiz erreichen die Linken solch hohe Werte. Die grösste Partei der Schweiz, die SVP, holte in der Ausgehmeile von Zürich klägliche 7 Prozent der Stimmen.
Männerrunden und Schenkelklopfer
In Wolhusen-Markt, einer von drei Ortschaften in der Gemeinde Werthenstein, treffen wir Nadja Stadelmann vor dem Restaurant Krone. «Meinen Kaffee trinke ich lieber da drüben bei den Bänkli», sagt die Politikerin mit Blick auf die Beiz. «Oder im Sprach-Café für Menschen mit Migrationshintergrund.» Dieses führt die Sozialpädagogin selbst. In die Krone gehe sie nur selten, denn ihre Familie ernährt sich vegetarisch: «Das heisst, wir können hier oftmals nur die Beilagen essen oder einfach ein Dessert.»
Im Alltag merkt Stadelmann, dass sie in Werthenstein eine Minderheit ist: An der Generalversammlung des Quartiervereins störe es nur sie, wenn ausschliesslich Männer das Wort haben, und bei Schenkelklopfern sei sie die Einzige, die nicht lacht. «Der Umgang mit mir ist aber fast immer respektvoll», erzählt die Politikerin. Nur einmal wurde sie von jemandem aus ihrer Gemeinde angefeindet: Ein junger Mann beleidigte sie wiederholt auf den sozialen Medien während ihrer Kandidatur für den Kantonsrat 2019: «Der Grundtenor war, dass die Linken nicht arbeiteten und faul seien, genau wie ich.»
Das Haus der Politikerin ist dank des roten SP-Wahlplakats am Balkon einfach erkennbar. Der Garten ist etwas wilder als derjenige der Nachbarhäuser. Hier lebt Stadelmann mit ihrer Familie. Mit dem politischen Engagement der Mutter sind auch die Kinder konfrontiert. So warf der Sohn eines Bauers in der Schule ihrer Tochter vor: «Wenn wir unsere Kühe schlachten müssen, ist deine Mutter schuld.» Damit spielte er auf die von der SP unterstützte Trinkwasser-Initiative an, die den Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft erschweren sollte. «Es braucht schon etwas Mut, um gegen den Strom zu schwimmen», sagt Stadelmann.
«Du gehörst nicht hierher»
Das gleiche Sprachbild verwendet auch Stefan Urech. «Im Kreis, wo alles nach links zieht, lohnt es sich, stromaufwärts zu schwimmen», schreibt er auf seiner Website. Wir treffen ihn auf der Hardturmbrache, den Überbleibseln des alten Stadions des Grasshopper Clubs Zürich. Die Fläche wird von einem nicht kommerziellen Verein genutzt, bis ein neues Stadion gebaut werden soll. Er bewirtschaftet den öffentlichen Garten im Grünteil der Anlage, mit Pizzaofen und offener Küche.
«Dort sind die Hausbesetzer vom Koch-Areal», sagt Urech und zeigt auf ein paar Wagen, die auf dem Hartplatz der Brache stehen. Ihm ist die Hardturmbrache ein Dorn im Auge. Er ist GC-Fan und war als Jugendlicher oft im Stadion. «Ich bin hier also eine doppelte Minderheit», witzelt er, denn die Kreise 4 und 5 sind heute FCZ-Gebiet. Wie viele andere Fussballfans fordert er, dass endlich ein neues Stadion gebaut wird. Die Stimmbevölkerung sagte Ja. Das Projekt wurde immer wieder durch Einsprüche von Anwohnern und Umweltorganisationen verzögert.
Urech nimmt wahr, dass es politisch nur wenige Gleichgesinnte in seinem Quartier hat: «Immer wenn ich neue Leute kennenlerne, überlege ich mir zweimal, ob ich mich als SVPler outen soll.» Die Menschen seien oft entsetzt, erklärt er. «Für die meisten ist das was ganz Neues, normalerweise haben sie nur mit Gleichdenkenden zu tun.» Sie wüssten gar nicht wie reagieren.
Am härtesten zu spüren bekommen dies Urech und seine Parteikollegen bei Standaktionen im Quartier. Die Hakenkreuz-Kritzelei damals vor vier Jahren war ein Schock. An Beleidigungen wie «Arschloch» oder «Fascho» hat er sich hingegen mittlerweile gewöhnt; diese gebe es jedes Mal. «Viele sagen uns, wir würden nicht hierher gehören.» Schon zwei Mal musste man die Polizei rufen, weil jemand mit Gewalt drohte. «Mir wurden auch schon die Flyer aus der Hand geschlagen.»
Das sei schon taff. «Ich bin froh, dass ich hier nicht arbeite», sagt Urech. Er ist Sek-Lehrer in Mettmenstetten, einer ländlichen Gemeinde im Kanton. Viele der Parteimitglieder hätten Angst, dass man im Quartier weiss, dass sie die SVP unterstützen. Das Schwierigste sei das Aufstellen einer Liste für die Gemeinderatswahlen. «Der Grossteil der Mitglieder will nicht mehr auf der Liste stehen, die dann in jedem Haushalt in unserem Quartier landet», erzählt Urech. Handwerker hätten das Gefühl, dass die Stadt ihnen dann keine Aufträge mehr geben würde. «Viele befürchten, dass sie gesellschaftliche oder berufliche Konsequenzen zu spüren bekommen.» Ob das auch wirklich so sei, könne er aber nicht bestätigen, merkt Urech an.
Landliebe
In der Gemeinde Werthenstein sitzt Nadja Stadelmann am Stammtisch der Krone – für unser Gespräch macht sie eine Ausnahme. Hinter ihr steht eine etwa ein Meter grosse Statue zweier Schwinger. Die violetten Pins des feministischen Streiks an der Tasche der Politikerin passen nicht zum Ambiente der ländlichen Gaststätte.
Stadelmann hatte nie vor, Wolhusen zu verlassen. Auch nachdem sie es bei den Wahlen 2023 zum zweiten Mal nicht in den Kantonsrat geschafft hatte: «Klar, wenn ich in der Stadt leben würde oder schon nur zwei Dörfer weiter, wäre es einfacher, als Linke gewählt zu werden.» Ihr sei es aber wichtig, ein Zeichen zu setzen und für Veränderung in ihrer Gemeinde zu sorgen.
Doch es gibt für Stadelmann nicht nur politische Gründe, um in Werthenstein zu bleiben: «Es ist einfach wunderschön hier, ich mag die Natur.» Man kenne jeden, achte aufeinander und begegne sich freundlich, sagt die Politikerin. «Bei der Taufe meiner Tochter kam fast das ganze Quartier.» Das habe sie sehr berührt. Auch wenn es wieder politisch werde, diskutiere man auf Augenhöhe. Zudem spürt sie eine Entwicklung seit ihrer Kantonsratskandidatur vor vier Jahren: «Mir begegnen die Menschen mit mehr Toleranz als früher.» Trotzdem würde sie sich mehr Linke in ihrer Gemeinde wünschen und hat deswegen der SP Wolhusen, die schon länger nicht mehr wirklich aktiv war, neues Leben eingehaucht.
Ein richtiger Städter
Auch Stefan Urech ist sich bewusst, dass ein Umzug aus wahltaktischen Gründen Sinn ergeben würde: Der nächste Schritt in seiner politischen Karriere wäre für ihn ebenfalls anderswo einfacher, schliesslich müsste er von seinem Wahlkreis in den Kantonsrat gewählt werden. Er möchte aber «in diesem linken Einbahnquartier etwas Gegenwind geben». Zudem ist er einfach ein richtiger Städter: Er besitzt ein Velo statt eines Autos, trägt eine Freitag-Tasche und arbeitet beim Staat. Mehr Rechtsgesinnte hätte er zwar schon gern in seinem Quartier, dafür liebe er aber die kulinarische Vielfalt, das viele Grün und die alten Industriegebäude.
Er schätzt sein Quartier aber noch aus einem anderen Grund. Ihm habe es gutgetan, von Andersdenkenden umgeben zu sein: «Man lernt, sich zu hinterfragen.» Im Kreis 5 klopfte ihm niemand für seine Ansichten auf die Schulter, deswegen musste er seine Argumente immer und immer wieder präzisieren.
Gesellschaftlicher Kitt
Diesen Vorteil des Kontakts mit Andersdenkenden beschreibt auch Ivo Scherrer (35), Leiter von «Lasst uns reden» bei Pro Futuris: «Dadurch können wir verhindern, dass wir uns mit einfachen Feindbildern und Stereotypen zufriedengeben.» Sein Projekt hat zum Ziel, Menschen mit möglichst unterschiedlichen Ansichten ins Gespräch zu bringen und so die Polarisierung zu bremsen.
Ähnlich wie die Gespräche bei «Lasst uns reden» sorgen auch Nadja Stadelmann und Stefan Urech für gegenseitiges Verständnis in der Bevölkerung. «Gerade an politisch homogenen Orten sorgen Menschen, die politische Minderheiten vertreten, im Idealfall für mehr Empathie, indem sie alternative Perspektiven für die Mehrheit überhaupt erst sichtbar machen», erklärt Scherrer.
Auch wenn manche die beiden als Provokateure wahrnehmen mögen, übernehmen sie eine wichtige Aufgabe: Durch sie wird der «Feind» zum nahbaren Menschen. Der Mut und die nötige Integrität, sein Fähnlein nicht nach dem Wind zu drehen, zahlen sich aus, für die ganze Schweiz.