Eine neue Studie sorgt für rote Köpfe. Die Universität Dresden hat untersucht, wie viel Verständnis Europäer gegenüber anderen Meinungen haben. Dafür wurden 20'000 Menschen aus zehn europäischen Ländern zu Themen wie Migration, Gleichstellung, Klimawandel oder Umgang mit sexuellen Minderheiten befragt.
Doch ausgerechnet die Studienresultate stossen nun auf Unverständnis. «Links, urban, gebildet – und intolerant» titelte die «SonntagsZeitung» und löste bei linken jungen Städtern Empörung aus. Und darüber hinaus eine Debatte über «affektive Polarisierung». Mit dem Begriff beschreibt die Politikwissenschaft, wie stark Menschen durch ihre Gefühle geleitet sind und deshalb andere Meinungen ablehnen.
Aber was stimmt jetzt? Was die Studie tatsächlich aussagt, ordnet der Politologe Claude Longchamp (66) im Interview mit Blick ein.
Herr Longchamp, sind Linke intoleranter als Rechte?
Claude Longchamp: Es gibt keine Untersuchung, die das belegt. Die Studie hat den Wert von affektiver Polarisierung gemessen – und nicht von Intoleranz. In der gesamten Studie kommt das Wort Intoleranz kein einziges Mal vor.
Worin besteht der Unterschied?
Wer affektiv polarisiert ist, versteht die Meinung ganzer Gruppen nicht, aber er duldet sie. Das ist der zentrale Unterschied zur Intoleranz. Eine intolerante Person will andere Meinungen verbieten und deren Verfechter aus dem gesellschaftlichen Leben verbannen.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Die Grünen sind beim Thema Klimawandel am stärksten affektiv polarisiert. Sie verstehen nicht, weshalb es Leute oder Gruppen gibt, die den Klimawandel leugnen. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie intolerant sind. Im Gegenteil: Wenn ich eine andere Meinung nicht verstehe, aber dulde, bin ich tolerant.
Dennoch: Gemäss der Studie sind Linken stärker affektiv polarisiert.
In der europäischen Gesamtstatistik, ja. Aber in einzelnen Ländern ist es umgekehrt. So zum Beispiel in Deutschland. Dort sind die Rechten – vor allem die Anhänger der AfD – viel affektiver polarisiert als die Linken. Die Aussage, nur die Linken seien polarisiert, lässt sich nicht verallgemeinern. Je nach Land und Thema fallen die Ergebnisse unterschiedlich aus.
Zum Beispiel?
In Ländern, in denen heftig über Migration gestritten wird, sind die Rechten stärker affektiv polarisiert als die Linken. Bei Debatten über Gleichstellung und die Rechte sexueller Minderheiten ist es umgekehrt.
Dennoch: Affektive Polarisierung kann die Demokratie gefährden.
Ja, aber das hängt vom Ausmass ab. In Amerika ist die Polarisierung enorm, in Europa dagegen vergleichsweise tief: Maximal 17 Prozent der Bevölkerung sind stark affektiv polarisiert.
Immerhin rund jede sechste Person.
Das ist kein hoher Wert. In Europa stellen Links- und Rechtsextreme etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Das sind Menschen, die physische Gewalt befürworten. Zu affektiver Polarisierung gehört höchstens verbale Gewalt. Daher sind 17 Prozent erwartbar. In der Schweiz wären die Werte wohl noch tiefer.
Was sagt die Studie über die Schweiz aus?
Nichts. Die Studienautoren haben die Schweiz nicht berücksichtigt. Es gibt keine Daten dazu.
Aber auch hier gibt es affektiv polarisierte Menschen.
In der Tat, und ich wüsste gern, wie weit das Phänomen verbreitet ist. Aber es gibt keine aktuellen Untersuchungen. Was ich feststelle, ist eine sachbezogene Polarisierung bei Abstimmungen. Da geben wir uns teils schon wüst um die Ohren. Doch das gehört zur Debattenkultur – und deshalb ist unsere Demokratie noch lange nicht in Gefahr.
Was muss man tun, damit es so bleibt?
Wichtig ist, den politischen Gegner nicht zu verunglimpfen. Auch ein Mehrparteiensystem hilft: In der Schweiz gibt es immer wieder neue Allianzen. Aktuell gibt die FDP den Grünen aufs Dach. Vor einem Monat verteidigten sie noch gemeinsam das Klimaschutzgesetz. Das ist typisch für die Schweiz.
Könnte sich das nicht ändern? Jungen Linken wird vorgeworfen, sie seien am stärksten polarisiert. Es gibt sogar einen Begriff dafür: Yips (young illiberal progressives), also junge, engstirnige Progressive.
Die Studie besagt das Gegenteil. Demnach sind die über 55-Jährigen am stärksten affektiv polarisiert. Yips ist ein Marketing-Begriff, ein neues Feindbild – mit dem man einfach die nächste Gruppe angreift. Damit kann ich nichts anfangen.