«Der Wettstreit der politischen Ideen ist sehr wichtig»
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Zum Wahlkampf der Politiker:«Der Wettstreit der politischen Ideen ist sehr wichtig»

Schweizer Politik-Professorin Silja Häusermann vor den Wahlen
«Die Sozialdemokratie in ganz Europa steckt in der Krise»

Sie stieg mit 34 Jahren zur Politik-Professorin auf und ist heute eine der wichtigsten Expertenstimmen in der Schweiz: Silja Häusermann (46). Ein Gespräch über die Wahlen, den Erfolg der Rechten, die Krise der Linken und eine Wissenschaftskarriere als Frau und Mutter.
Publiziert: 14.10.2023 um 17:24 Uhr
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Aktualisiert: 14.10.2023 um 17:49 Uhr
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Silja Häusermann ist seit 2012 Professorin an der Universität Zürich.
Foto: Thomas Meier
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Frau Häusermann, Sie beschäftigen sich den ganzen Tag mit Politik. Hat es Sie je gereizt, in die Politik einzusteigen?
Silja Häusermann: Nein. Je länger ich Politikwissenschaftlerin bin, desto weniger kann ich mir vorstellen, selber in die Politik zu gehen.

Was schreckt Sie ab?
Mein Job ist es, die Politik mit kühlem Kopf zu analysieren. Dabei geht ein bisschen das Feuer verloren, das man haben muss, um eine Seite uneingeschränkt zu vertreten. Das ist gut für meine Arbeit, aber wäre schlecht für die Politik.

Die Parteien werben seit Wochen um die Wählergunst. SVP und FDP mit Mega-Events in Eishockeystadien. Haben wir amerikanische Verhältnisse?
Diese Frage kommt seit Jahren.

Sie sind skeptisch?
Der Wahlkampf bei uns ist anders als jener in den USA, er kocht auf kleinem Feuer. Was wir sehen, gehört zur zentralen Aufgabe der Parteien im Wahlkampf: Sie müssen mobilisieren. Dies, indem sie ihre Wählerbasis begeistern, mit Emotionalität und einem Appell an die politischen Identitäten ihrer Wähler und Wählerinnen.

Am 1. August sagte der SVP-Präsident in seiner Rede: «Jagen Sie mit uns die schädliche Politik der Grünen und Linken in die Luft!» Und die linke Kampagnenorganisation Campax setzte die FDP und die SVP mit den Nazis gleich. Das klingt doch trumpistisch.
Der raue Ton ist Ausdruck einer Entwicklung, die schon länger begonnen hat. Die Schweiz ist heute eines der polarisiertesten Länder Europas. Studien zeigen, dass die Leute heute genau wissen, wo sie politisch hingehören. Das führt dazu, dass die politischen Lager stark gespalten sind und eher unter sich bleiben. Umso mehr versuchen sie, durch zugespitzte Slogans und Kampagnen ihre Wählerbasis zu mobilisieren.

Die Überfliegerin

Silja Häusermann ist 1977 im Kanton Luzern geboren. Sie machte eine Blitzkarriere. Mit 34 Jahren wurde sie Juniorprofessorin für Politikwissenschaft an der Universität Konstanz. Mit 35 Jahren erhielt sie die Professur für Schweizer Politik und Vergleichende politische Ökonomie an der Universität Zürich. Heute leitet sie dort das Institut für Politikwissenschaft. Sie forscht unter anderem zum Erfolg von rechtsnationalen Bewegungen und zu der Krise der Linken. Und sie ist Co-Autorin des Buchs «Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz» (NZZ Libro). Silja Häusermann lebt mit ihrer Familie in Zürich.

Thomas Meier

Silja Häusermann ist 1977 im Kanton Luzern geboren. Sie machte eine Blitzkarriere. Mit 34 Jahren wurde sie Juniorprofessorin für Politikwissenschaft an der Universität Konstanz. Mit 35 Jahren erhielt sie die Professur für Schweizer Politik und Vergleichende politische Ökonomie an der Universität Zürich. Heute leitet sie dort das Institut für Politikwissenschaft. Sie forscht unter anderem zum Erfolg von rechtsnationalen Bewegungen und zu der Krise der Linken. Und sie ist Co-Autorin des Buchs «Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz» (NZZ Libro). Silja Häusermann lebt mit ihrer Familie in Zürich.

Der Demokratiemonitor 2023 des Forschungsinstituts GFS Bern zeigte kürzlich: Die Hälfte der Befragten von links bis rechts sind wegen der Polarisierung unzufrieden mit der Schweizer Politik. Welche Folgen hat das?
Die Politik kann in wichtigen Bereichen wie der Klima-, der Europa- und der Rentenpolitik keine weitreichenden Entscheidungen fällen. Die Polarisierung führt zu einem Reformstau.

Warum driften die Lager überhaupt so auseinander?
Die Gesellschaft hat sich verändert. Im 20. Jahrhundert war der Klassenkampf der grosse politische Konflikt, man hat es geschafft, ihn über viele Kompromisse zu befrieden. Heute ist es der Kulturkampf zwischen Bewahren und Aufbrechen alter sozialer Ordnungen, zwischen der neuen Linken und den rechtsnationalen Parteien. In der Schweiz äussert sich das dezidierter als anderswo.

Wahlbarometer 2023

Gemäss der neusten Befragung durch das Institut Sotomo (im Auftrag von SRF durchgeführt) schneiden die Parteien wie folgt ab: SVP: 28,1 Prozent. SP: 18,3 Prozent. Mitte: 14,3 Prozent. FDP: 14,1 Prozent. Grüne: 9,7 Prozent. GLP: 6,8 Prozent. EVP: 2,1 Prozent. Damit dürfte die SVP einen Grossteil der Verluste, die sie 2019 einfuhr, wieder gutmachen. Grosse Verliererin wäre die Grüne Partei, die vor vier Jahren mit einem Plus von rund 6 Prozentpunkten auf 13,2 Prozent ihren Wähleranteil fast verdoppelte. Offen ist, was das für die Frauen bedeutet. 2019 erhöhte sich deren Anteil im Nationalrat von 32 auf 42 Prozent.

Gemäss der neusten Befragung durch das Institut Sotomo (im Auftrag von SRF durchgeführt) schneiden die Parteien wie folgt ab: SVP: 28,1 Prozent. SP: 18,3 Prozent. Mitte: 14,3 Prozent. FDP: 14,1 Prozent. Grüne: 9,7 Prozent. GLP: 6,8 Prozent. EVP: 2,1 Prozent. Damit dürfte die SVP einen Grossteil der Verluste, die sie 2019 einfuhr, wieder gutmachen. Grosse Verliererin wäre die Grüne Partei, die vor vier Jahren mit einem Plus von rund 6 Prozentpunkten auf 13,2 Prozent ihren Wähleranteil fast verdoppelte. Offen ist, was das für die Frauen bedeutet. 2019 erhöhte sich deren Anteil im Nationalrat von 32 auf 42 Prozent.

Vor vier Jahren schwächelte die SVP aber. Hat das mit dem scharfen Ton zu tun?
Nein. Ihre Wählerbasis hat sie nicht verloren, sie konnte 2019 die Leute aber nicht so gut mobilisieren. Nun versucht sie das offensiv aufzuholen. Sie hat schon Anfang Jahr angefangen, Themen zu lancieren, die zum Zeitgeist passen: Migration und Gender.

Ist es nicht merkwürdig, dass die rechte Partei mit Schlagwörtern «Gender-Terror» und «Woke-Wahnsinn» Themen bearbeitet, die zum Kern der Linken gehören?
Gesellschaftsthemen sind nicht links. Christoph Blocher führte 1985 eine der ersten grossen SVP-Kampagnen gegen das neue Eherecht, bei dem es um die Gleichberechtigung in der Ehe ging. Auch in diesem Kampf liegen die Wurzeln der heutigen SVP. Und diese Politik verfolgt sie konsistent. Sie kämpfte auch gegen die Mutterschaftsversicherung, die Ehe für alle oder etwa den Vaterschaftsurlaub.

Im Vergleich dazu ist der Genderstern ein Nebenschauplatz. Warum regt er trotzdem so viele Leute auf?
Es herrscht ein Gefühl von Aufruhr und Umbruch. Nichts scheint mehr sicher: Wetter, Wirtschaft oder Frieden in Europa. Und eben auch die hergebrachte gesellschaftliche Ordnung. Umbruch verunsichert die Leute.

Was genau triggert diese Leute?
Wenn die alte Geschlechterordnung ins Wanken gerät. Man weiss nicht mehr, «was gilt». Manche entwerfen Szenarien, wonach die Kategorien Frauen und Männer bald abgeschafft würden. Es geht um Verlust und um Autonomie. Gewisse Gruppen in der Gesellschaft sorgen sich, nicht mehr gleich sprechen und schreiben zu können, wie sie es immer für «normal» hielten. Der Genderstern ist nur ein Symbol dafür.

Das klingt völlig verunsichert.
Rechtsnationale Wähler und Wählerinnen fürchten eher, dass sich ihre eigene Position in der Gesellschaft verschlechtert. Dass sie abgehängt werden. Die Verunsicherung erweist sich in der Forschung als wichtige Triebfeder für den Aufschwung der Rechten in ganz Europa.

Welche Rolle spielte die feministische Bewegung dabei?
Sagen wir es so: Der gesellschaftliche Aufbruch führte zu einer Gegenbewegung im rechtskonservativen Lager. Diese Parteien setzen mehr auf die Themen Familien und Geschlechterrollen. In der Forschung nennt man das Backlash-Effekt.

Wo genau zeigt sich dieser?
Aus Spanien und Schweden haben wir Studien, die den Backlash gegen die MeToo-Bewegung belegen. Dadurch gingen mehr Konservative an die Urne.

Auch manche Linke haben Mühe, wenn die SP aus ihrer Sicht zu stark auf Genderthemen setzt. Verscheucht sie damit ihre Wählerinnen und Wähler?
Die Forschung liefert keine Belege dafür. Den linken Wählerinnen und Wählern sind die gesellschaftlichen Themen gleich wichtig wie jene zu Löhnen, Mieten und Krankenkassenprämien.

Sehen das wirklich alle gleich?
Den älteren Linken sind die modernen, progressiven Themen zwar in der Tat etwas weniger wichtig als den Jüngeren. Sie sind aber keineswegs dagegen. Wegen des Gender-Themas verlieren die Sozialdemokraten keine Stimmen an Parteien wie die SVP. Im Gegenteil, der SP nützt es, dass sie seit vielen Jahren mit Gleichstellung in Verbindung gebracht wird.

Warum schnitt die SP dann vor vier Jahren mit dem für sie schlechtesten Ergebnis seit Einführung des Proporz ab?
Die Sozialdemokratie in ganz Europa steckt in der Krise. Bis vor dreissig Jahren hatte sie das Monopol im linken Lager. Dieses Lager umfasst bis heute einen in etwa gleich grossen Wähleranteil, aber es teilt sich auf mehr Parteien auf.

Hat der Verlust auch damit zu tun, dass sich manche von der SP nicht mehr abgeholt fühlen? Stichwort: «Cüplisozis».
Der Anteil der Arbeiterschaft im Elektorat der SP hat schon vor dreissig Jahren massiv abgenommen. Wegen der Deindustrialisierung. Heute sind durchschnittliche SP-Wählende gut ausgebildet, viele davon leitende Angestellte, etwa gleich viel Männer wie Frauen, eher im städtischen Umfeld.

Also doch: eine Bildungselite.
Nein, sie stehen nicht für eine elitäre Minderheit. Denn etwa ein Drittel der Schweizer Bevölkerung hat heute einen Hochschulabschluss, bei den Jungen sogar die Hälfte. Diese Leute sorgen sich um die hohen Mieten, um Betreuungsmöglichkeiten, Krankenkassenprämien, aber eben auch um Gleichstellung und Integration. Die SP wurde zu einer Partei der Mittelschicht.

Münzen wir das auf die Wahlen um: Bei den Linken sitzen eher Frauen im Parlament als bei den Rechten. Die Grünen verlieren nun wohl Prozente. Wird das Parlament nun wieder männlicher?
Eher nicht. Wahrscheinlich gibt es wieder eine Umverteilung im linken Lager. 2019 ging es von Rot nach Grün, jetzt eher zurück. Sollte es aber einen Rutsch von links nach rechts geben, sähe es wohl anders aus. Als die SVP in den Neunzigerjahren aufstieg, verloren die Mitte-Parteien Sitze an eine Partei, die damals noch ganz wenig Frauen hatte.

Bei der SP nehmen sich die Frauen in Bezug auf einen Bundesratssitz selber aus dem Rennen, während reihenweise Männer für eine Kandidatur zusagen. Warum zögern die Politikerinnen?
Für eine SP-Kandidatin ist es in diesem Wahlkampf nicht einfach, anzutreten.

Warum?
Es stellen sich eine ganze Reihe von sehr gut qualifizierten Männern zur Verfügung. Und weil es der SP um Parität geht, darum, dass Frauen und Männer gleich vertreten sind. Im Bundesrat sitzt ja bereits eine SP-Frau.

Sie sind mit 34 Jahren Professorin geworden. Eine Frau, dazu noch jung – gab es Hürden?
Für Frauen ist eine akademische Karriere generell sehr schwierig. Der entscheidende Karriereschritt kommt oft dann, wenn es familiär nicht passt. Auch bei mir. Meine Zwillinge waren sechs Monate alt, als ich meine erste Professur angetreten habe.

Warum klappte es trotzdem?
Aus Gründen, die leider eher die Ausnahme sind und nicht die Regel: Mein Mann zog von Anfang an voll mit, und wir hatten viel Unterstützung von meinen Eltern, meinen Schwiegereltern und einer Kinderfrau. Wir waren eine Familien-KMU. Meiner Mutter bin ich wegen ihrer Haltung dankbar. Sie hat mir immer gesagt: Du musst nicht immer daheim sein, du musst schauen, dass jemand da ist. Das hat mir sehr geholfen. Ich fühlte mich in meinem Weg bestärkt.

War immer klar, dass Sie eine akademische Karriere machen?
Ja, ich wollte Professorin werden. Das war schon mein Ziel.

Warum war das wichtig?
Mir liegt die Mischung aus Lehre, Forschung und Management. Und ich wollte aus feministischen Gründen in eine Entscheidungsposition. Auch eine Rolle spielte, dass ich aus einem nicht akademischen Haushalt komme. Ich wollte meiner Familie beweisen, dass ich als Sozialwissenschaftlerin auch einen sehr guten Job habe.

Ihre Kinder sind zwölf Jahre alt. Wie vermitteln Sie ihnen Politik?
Im Alltag. Bei uns wird schon sehr viel über Politik gesprochen. Unsere Kinder sehen auch viele Zeitungen herumliegen und haben immer schon viel nachgefragt. Als sie kleiner waren, sind wir am Sonntag mit ihnen an die Urne abstimmen gegangen. Das machte Eindruck. Als mein Sohn vier war, weigerte er sich einmal, mitzukommen. Da ging es um die Ecopop-Initiative. Die politische Stimmung war aufgeladen, und er dachte, an der Urne finde direkt die Auseinandersetzung statt.

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