Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Wie radikale Ideen die Gesellschaft vergiften

«Manchmal glaube ich schon vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge», schrieb einst Lewis Carroll (1832–1898), der Verfasser von «Alice im Wunderland». Was seine Fantasie beflügelte, führt heute Massen in die Irre.
Publiziert: 23.05.2023 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 21.05.2023 um 17:57 Uhr
Wenn sich Massen radikalisieren: Am 6. Januar 2021 stürmte der Mob das Capitol in Washington, D.C.
Foto: imago images/Pacific Press Agency
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Vor vier Jahren gab ich eine Vermisstenanzeige auf: «Verlust der Mitte», hiess ein Artikel im SonntagsBlick-Magazin, worin ich beschrieb, wie die Mitte der Gesellschaft soziologisch und ökonomisch allmählich verschwindet. Zwar gab es dann 2021 in der Schweiz noch die CVP, die sich seit der Fusion mit der BDP Die Mitte nennt, aber das ist nicht mehr als Kosmetik. Denn schon vor Jahren prophezeite die US-Soziologin Saskia Sassen (76): «Die Mitte verschwindet. Und das ist schlimm (…).»

Und nun wissen wir auch, wohin sie verschwindet. «Wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt», heisst der Untertitel eines unlängst erschienenen Buchs der österreichischen Investigativjournalistin und Politikberaterin Julia Ebner (31). Darin beschreibt sie anschaulich, wie insbesondere die Corona-Pandemie als Zentrifugalkraft wirkte, die die Mitte an die Ränder drängte. Seither glauben viele an Desinformationen und Verschwörungstheorien, die ihren Ursprung in «randständigen Subkulturen haben», so Ebner.

Die Doktorandin am St John’s College der englischen Universität Oxford geht den Fragen nach, was liberale Gesellschaften so verwundbar machte, welche menschlichen Faktoren Radikalisierung und Polarisierung begünstigen und was wir tun können, um Demokratien vor dem Zerfall zu bewahren. «Ich bin eine wissenschaftsbegeisterte, antirassistische Feministin», schreibt Ebner. «Aber für dieses Buch habe ich mich mit Antifeministen, Rassisten, Klimaleugnern und Verschwörungstheoretikern getroffen.»

«Massenradikalisierung» ist keine Fernbetrachtung aus dem Elfenbeinturm, sondern eine Tuchfühlung mit dem Volk. Ebner scheut keine Begegnung und trifft sich meist undercover. Das Buch lebt von Gesprächsprotokollen. An einer Demo spricht sie mit einem Mann, der ein Schild mit der Aufschrift «Lasst unsere Babys in Ruhe!» hochhält. «‹Was genau hat es mit den Babys auf sich?›, frage ich ihn. ‹Sie töten Babys, um ihnen Adrenochrom abzuzapfen.› ‹Was ist Adrenochrom?› ‹Es ist deutlich gehaltvoller als Adrenalin und kann zu Drogen werden.›»

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Julia Ebner

«Massenradikalisierung – wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt», Suhrkamp Nova

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«Massenradikalisierung – wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt», Suhrkamp Nova

Die abstrusesten Ideen finden heute ein Massenpublikum. Wer noch vor zehn Jahren eine Million Menschen habe erreichen wollen, der musste das Interesse einer Tageszeitung gewinnen oder Werbefläche kaufen – heute laufe das unter dem Radar der Öffentlichkeit übers Internet. Ebner fordert deshalb unter anderem die frühzeitige Entlarvung von Desinformation und die Rückeroberung der Sprache. Denn: «Dinge falsch zu etikettieren oder in einen ganz anderen Kontext zu verschieben sind potente Werkzeuge geworden, um Keile in Gemeinschaften zu treiben.»

Noch 2016 habe man das EU-Referendum in Grossbritannien und die US-Präsidentschaftswahl als politische Unfälle gesehen. Doch so Ebner: «Im Rückblick waren der Brexit und die Trump-Wahl nur der Beginn einer neuen Ära.» Mit weitreichenden Folgen wie der Erstürmung des Capitols in Washington D.C. im Jahr 2021. «Die Ereignisse vom 6. Januar zeigen, wie weit verbreitet radikale Ideen in der Mitte der Gesellschaft bereits sind», schreibt die Politikwissenschaftlerin.

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