Risse gehen durch das Land: Wie grosse Scherben reiben sich gleich fünf Kontinentalplatten auf dem Staatsgebiet der Türkei aneinander und bilden als Hauptbrüche die nordanatolische und die ostanatolische Verwerfung. Entlang dieser instabilen Linien kommt es immer wieder zu Erdbeben, zuletzt am 6. Februar 2023 im Südosten des Landes mit über 50'000 Toten. So wie sich die Türkei tektonisch präsentiert, so zeigt sie sich politisch – mit unzähligen Opfern.
«Das Ergebnis ist ein politisches Erdbeben», schreibt Çiğdem Akyol (44) in ihrem eben veröffentlichten Buch «Die gespaltene Republik» über die Wahl von Recep Tayyip Erdoğan (69) zum Oberbürgermeister von Istanbul im Jahr 1994. Bekanntlich macht der Mann danach eine steile Karriere und stellt sich am kommenden Sonntag zur Wiederwahl als Präsident des Landes. Und am Sonntag, 29. Oktober 2023, sind es hundert Jahre, seit Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) die Türkische Republik ausrief.
«Staatsgründer Atatürk hatte sich bei der Ausrufung der Republik wohl kaum gewünscht, dass einmal ein Präsident an die Macht gelangen würde, dessen Frau selbstbewusst ein Kopftuch trägt», so die Deutschtürkin Akyol, die für die «NZZ» sowie «FAZ» schrieb, 2016 eine Biografie zu Erdogan veröffentlichte und aktuell für die Schweizer «WOZ» arbeitet. Der erste und der aktuelle Präsident unterscheiden sich fundamental: «Der eine denkt säkular, der andere fromm», schreibt Akyol weiter. «Dabei haben beide Männer einiges gemeinsam.»
Beide kämpfen sich aus bescheidenen Verhältnissen zu den prägendsten Politikern der Republik hoch, beide haben ein autokratisches Politikverständnis, und beide krempeln das Land nach ihren Vorstellungen um. 1926 kommt es in Izmir zu einer Verschwörung gegen Atatürk, worauf er die Anführer in einem Schauprozess hinrichten lässt. 2016 kommt es zu einem Militärputsch gegen Erdogan, worauf er 5000 Menschen verurteilen lässt, davon 3000 zu lebenslanger Haft; und Erdogan macht klar, dass er die Todesstrafe wieder einführen würde.
Das Militär verstand sich in der Türkei stets als Wächter des Erbes von Atatürk und putschte sich mehrmals an die Macht. Nach dem von Adnan Menderes (1899–1961) gebilligten Pogrom gegen Griechen im Jahr 1955 lässt die Junta den ersten gewählten Präsidenten erhängen. Akyol: «Der Militarismus bleibt ein zentrales Narrativ im kemalistischen Nationalismus.» Es gehe dabei auch darum, das Trauma des «schwachen» Osmanischen Reichs zu überwinden: Europäer nannten es den «Kranken Mann am Bosporus».
Das einst stolze Sultanat, das um 1900 von Bosnien bis nach Kuwait reichte, gehörte nach dem Ersten Weltkrieg zu den Verlierern und wurde zerschlagen. «Mit der Konferenz von Lausanne beginnt das Wunder von Atatürk», so Akyol. 1923 erreicht er am Genfersee den Abzug der Besatzer und übernimmt 1926 das Schweizerische Zivilgesetzbuch für sein Land. «Gemäss der Verfassung ist die Türkei ein demokratischer Rechtsstaat», schreibt Akyol. «Doch in der Realität war sie nie eine liberale Demokratie.» Ob sich das mit der kommenden Wahl ändert?
«Die gespaltene Republik – Die Türkei von Atatürk bis Erdogan», S. Fischer
«Die gespaltene Republik – Die Türkei von Atatürk bis Erdogan», S. Fischer