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Das Ungeheuer von Loch Ness heisst heute Wokeness

«Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral», steht in der «Dreigroschenoper» (1928) von Bertolt Brecht. Doch erst die Moral brachte Menschen dazu, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und Essen zu teilen.
Publiziert: 18.04.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 15.04.2023 um 11:52 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Früher waren die Rechten schlaflos: «Vigilance» (franz. für Wachsamkeit) hiess eine populistische und fremdenfeindliche Partei in Genf, die 1985 zur zweitstärksten politischen Kraft im Kanton heranwuchs. 1991 löste sich die Bürgerwehr auf. Heute sind bei uns die Linken «woke» (engl. für erwacht) und halten Ausschau nach sozialer Ungerechtigkeit und Rassismus in unserer Gesellschaft. Die Konservativen wähnen sich derweil in einem Albtraum und sehen in der Wokeness das neue Ungeheuer von Loch Ness.

«Wokeness wird von ihren Verächtern als ultimatives Fanal beschrieben, das den endgültigen Untergang der goldenen Ära von Freiheit und Rechtsstaat bedeutet», schreibt der Deutsche Hanno Sauer (40) in seinem eben erschienenen Buch über die «Erfindung von Gut und Böse». Der Professor für Philosophie und Ethik an der Universität Utrecht in den Niederlanden zeigt darin auf, dass Wokeness bloss die neueste Entwicklungsstufe in der langen Geschichte der menschlichen Moral ist.

Alles begann gemäss dem Ethiker vor fünf Millionen Jahren: Unsere Vorfahren kamen von Bäumen runter und rotteten sich in Gruppen zusammen. «Die spezielle Form von Kooperation, die die Moral des Menschen geformt hat», so Sauer, «besteht darin, das Interesse des Einzelnen zugunsten eines grösseren Gemeinwohls hintanzustellen, von dem alle profitieren.» In der frühesten Phase zeigte sich dieses altruistische Verhalten gegenüber Verwandten, damit die eigenen Gene weiterleben konnten.

Doch die Menschheit entwickelte sich weiter, wodurch nicht bloss Blutsverwandte miteinander in Kontakt kamen. Wie lässt sich Moral in einem solchen Umfeld einfordern? Durch Bestrafung. «Schon vor ungefähr 500’000 Jahren lernten wir, unkooperatives Verhalten mithilfe sozialer Sanktionen weitgehend unprofitabel zu machen», schreibt Sauer. Die Aggressivsten und Rücksichtslosesten habe man nicht selten getötet, die anderen überlebten: «Wir sind die Nachkommen der Freundlichsten.»

Mager, matt und mitleiderregend sieht der Mensch im Vergleich zu haarigen und furchteinflössenden Tieren aus. «Speere und Pfeile machten physische Stärke überflüssig, Normen des Teilens und Helfens übernahmen die Herrschaft eines dominanten Männchens», so Sauer. Allerdings führte der Übergang von prähistorischen Kleingruppen zu vormodernen Grosszivilisationen mit Arbeitsteilung und einem damit einhergehenden grösseren Wohlstand zu wachsenden Ungleichheiten.

Abschaffung der Sklaverei, Einführung des Frauenstimmrechts: Viele Ungleichheiten sind durch veränderte moralische Einstellung verschwunden, doch andere sind bis heute geblieben – und darob spaltet sich die Gesellschaft zusehends. Doch der Buchautor ist zuversichtlich: «Politische Polarisierung ist überwindbar (…) Polarisierung ist ein weitgehend emotionales Phänomen.» Wir hassen andere Menschen, obwohl es mehr Dinge gebe, die wir miteinander teilen, als solche, die uns trennen.

Daran sollten wir nach fünf Millionen Jahren moralischer Entwicklung immer denken.

zVg
Hanno Sauer

«Moral – die Erfindung von Gut und Böse», Piper

zVg

«Moral – die Erfindung von Gut und Böse», Piper

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