Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Stiller Urknall, zwitschernde Dinos, lärmende Menschen

Augen können wir schliessen, Ohren nicht: Die Belastungen des Gehörs in der Weltgeschichte sind enorm, doch die meisten sind von Menschen gemacht.
Publiziert: 25.04.2023 um 07:00 Uhr
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Aktualisiert: 23.04.2023 um 19:25 Uhr
Ohren zu! Fluglärm über Wohngebieten macht vielen Menschen zu schaffen.
Foto: THOMAS LUETHI / HEG
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Jedes Mal, wenn ein Flugzeug über meinen Kopf gedonnert sei, hätte ich meine Wollmütze tief ins Gesicht gezogen – damals im Kinderwagen. So hat es mir später meine Mutter berichtet. Dann als Teenager im Kinderzimmer konnte mir die Musik aus der Stereoanlage nicht laut genug sein. Um das zu betonen, mimte ich den Drummer und schlug mit Linealen auf Kissen ein – bis mein Vater reinstürmte und sagte, ich solle den Lärm abstellen.

«Lärm ist subjektiv», schreibt Kai-Ove Kessler (60) in seinem eben erschienenen Buch «Die Welt ist laut». «Was für den einen unerträglich scheint, ist für den anderen kein Problem.» Manchmal sei Lärm sogar Labsal, Erleichterung, Freude und pures Vergnügen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass einer namens Kessler Schlagzeuger der Hardrock-Band Bad Sister ist, mittlerweile laute Töne meidet und nun «eine Geschichte des Lärms» veröffentlicht.

Der Hamburger Historiker, Musiker und Journalist beim NDR hat fast 20 Jahre lang zum Lärm geforscht – vom Urknall bis zum Phone-Klang. «Vor allem das Klingeln der Mobiltelefone ist für viele Menschen ein Ärgernis – wenn sie nicht selbst telefonieren», so Kessler. Mit Sicherheit ist ein Anruf lauter als der Anfang des Universums: «Der Knall war gar kein Knall, denn die physikalischen Voraussetzungen für kosmischen Lärm waren noch gar nicht vorhanden.»

Erst mit der Entstehung der Erde vor 4,58 Milliarden Jahren sei es richtig laut geworden: «Durch Ausgasungen entstand eine Uratmosphäre.» Wie die Dinosaurier später darin geklungen haben mögen, weiss die Wissenschaft nicht – vielleicht so wie Vögel, denn sie sind die engsten lebenden Verwandten der Raubsaurier. «Sicher sind sich die Forschenden jedoch dahingehend, dass der T. Rex nicht so klang wie im Kino», schreibt der deutsche Buchautor.

Lärmforschung ist ein schwieriges Feld, denn Klänge sind flüchtig. «Sie sind weder archäologisch nachweisbar noch historisch fixiert oder reproduzierbar», schreibt Kessler. Tonaufzeichnungen gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Was die Zeit davor betrifft, ist er auf Beschreibungen oder Nachstellungen angewiesen: Mittels QR-Code im Buch kann man sich übers Handy prähistorische Flötenklänge oder mittelalterliches Schlachtgetümmel anhören.

Auch wenn das bisher lauteste Geräusch ein Naturereignis war – der Ausbruch des Vulkans Krakatau auf Indonesien im Jahr 1883 erreichte geschätzte 310 Dezibel und war noch 4800 Kilometer entfernt zu hören –, der grösste Lärmverursacher auf Erden ist der Mensch: Mit seinen Erfindungen der Stahlwerke, Dampfmaschinen, Autos und Flugzeuge brachte er viele um den Schlaf oder gar um den Verstand.

«Hilfe! Lärm! Meine Nerven!», titelte die «Münchner Abendzeitung» schon 1928. Doch es sollte noch schlimmer kommen: «Vieles spricht dafür, dass die Jahre nach 1945 und insbesondere die 1960er- und 1970er-Jahre die lautesten der Weltgeschichte waren», schreibt Kessler. Die wichtigste Veränderung zu damals sei heute die Bewertung der Lärmbelastung: Sie werde ernst genommen und nicht mehr belächelt als Überempfindlichkeit.

zVg
Kai-Ove Kessler

«Die Welt ist laut – eine Geschichte des Lärms», Rowohlt

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«Die Welt ist laut – eine Geschichte des Lärms», Rowohlt

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