Sehen kann man es noch nicht. Aber als ich aus dem klimatisierten Zug steige, weiss ich beim ersten Atemzug, dass es ganz nahe ist, das Meer! Warm, salzig und ein bisschen modrig, der Geruch von Genua steigt an der Innenseite meiner Nasenflügel hoch und weckt Erinnerungen, während sich die feuchte Luft an meine Haut klebt: So fühlen sich Ferien an.
Ein Gefühl, das man innert fünf Stunden haben kann. Seit drei Jahren gibt es täglich eine direkte Verbindung von Zürich in die italienische Hafenstadt, sie erspart das Umsteigen und Verspätungen in Mailand. Es ist die kürzeste Strecke von der Schweiz ans Meer. Für viele ist es bloss ein Ausgangspunkt, um sich mit der Fähre nach Korsika oder Sardinien einzuschiffen. Oder man zieht die ligurische Küste entlang an einen beschaulicheren Ort weiter.
Hinter bröckelnden Fassaden
Dabei lohnt es sich, hinter die bröckelnden Fassaden der La Superba zu blicken, so nennt sich die einst stolze Hafenstadt. Manche kommen für ein Wochenende, andere bleiben länger oder gar für immer. Schnell höre ich zum ersten Mal Schwiizerdütsch. Drei Frauen aus Luzern essen neben mir zu Mittag, vor dem Palazzo Grillo, einem beliebten Boutiquehotel. Die Stadt fernab der grossen Touristenströme werde unterschätzt, meinen sie, sie sei nicht so herausgepützelt. Einen Tisch weiter sitzt eine Frau mit ihrer Tochter und den beiden Enkelinnen – die Mädchen sehen hier das Meer zum ersten Mal.
Den Blick aufs Wasser gibt die grösste zusammenhängende Altstadt Europas aber nicht so schnell frei, die Gassen sind eng und die Mauern hoch. «Um das Meer zu sehen, muss man in Genua den Berg hinauf», erklärt Prisca Roth (48). Die Schweizer Historikerin führt mich durch ihre Lieblingsstadt, sie hat einen etwas anderen Reiseführer geschrieben: «Genua – La Superba». Es ist ein Lesewanderbuch, in dem Roth die Kulturgeschichte der einst wichtigsten Hafenstadt Europas aufzeigt. Und sie führt dank ihren Recherchen an jene Schauplätze in Genua, die massgeblich von Schweizerinnen und Schweizern mitgestaltet wurden. Die Spuren sind vielfältig: «Palazzi, ein ganzer Strassenzug, Kirchen und Bars – sie alle erzählen, wie Genua für die Schweizer über Jahrhunderte ein wichtiges Migrationsziel war.»
Standseilbahn aus Innerschweizer Hand
Sogar eine Standseilbahn auf die Righi gibt es. Das ist kein Zufall, sondern die italienische Kopie (mit h) des berühmten Originals. Und wer hats erfunden? Die beiden Innerschweizer Franz Josef Bucher und Josef Durrer – sie gaben dem Hausberg Genuas den Namen. Als 1897 die erste Standseilbahn die Bergstation in Genua erreichte, hiess diese nämlich noch Castellaccio. Der Name sollte die Genugtuung dafür sein, dass Bucher und Durrer in ihrer Heimat den Zuschlag für den Bau der Rigibahn nicht bekommen hatten, wird in Genua kolportiert.
Die Historikerin weiss, dass die beiden Innerschweizer sich gar nie für die Rigi-Konzession interessiert hatten, und vermutet deshalb eher einen schlauen Marketing-Schachzug: «Die Rigi war berühmt und Bucher baute Luxushotels von Basel über Luzern, Lugano, Genua und Rom bis Kairo. Seine Vision war es, dass seine Gäste auf ihren Reisen von Norden nach Süden überall in seinen Luxushotels absteigen können. Die Righi am Mittelmeer war also eine Art Leuchtturm, der die Reisenden anziehen sollte.»
Mit der Righi-Bahn erreichte man damals auf 300 Metern über dem Meer noch das Grandhotel-Restaurant Righi, heute ist es eine begehrte Wohngegend. Hier hat sich auch die Bündnerin Claudia Knapp (68) niedergelassen, zuvor hatte die ehemalige Journalistin in der Nähe von Sanremo zehn Jahre lang ihren eigenen Olivenhain. Noch wohnt sie zur Miete in einer 200 Quadratmeter grossen Jugendstilwohnung, demnächst zieht sie in ihre eigenen vier Wände. «Mit Garten, das ist selten und nur oberhalb der Altstadt möglich», sagt sie. Wie lange sie bleiben will? «Ein paar Jahre sicher, dann schaue ich weiter, vielleicht gehts wieder ganz ins Engadin oder es zieht mich wieder woanders hin.»
Attraktiv zum Wohnen
Die Immobilienpreise in Genua sind in den letzten zehn Jahren gesunken, das macht die Stadt am Meer attraktiv für Schweizerinnen und Schweizer. 722 von ihnen leben in Genua. Die Mieten für grosszügige Wohnungen, die teils wie Palazzi daherkommen, sind gerade mal ein Drittel so hoch wie bei uns. Das Gleiche gilt beim Eigenheim als Zweitwohnsitz oder fürs Alter. Schweizer dürfen eine maximal 200 Quadratmeter grosse Immobilie kaufen.
Auch Historikerin Prisca Roth hat sich vor drei Jahren entschieden, einen Teil ihrer Arbeit nach Genua zu verlegen. Sie wohnt hier mitten in der verwinkelten Altstadt. Einst dicht bevölkertes Zentrum, hat die historische Altstadt nach dem Zweiten Weltkrieg und der Stahlkrise in den 1980er-Jahren fast die Hälfte ihrer Einwohner verloren und zählt heute noch knapp 27'000 Personen. «Ich liebe die Altstadt, denn hier verkehren alle Bevölkerungsschichten», sagt Roth. «Während man in anderen Städten den sozialen Unterschichten hauptsächlich in den Aussenquartieren begegnet, leben sie hier mittendrin. Wobei die sechs- bis siebenstöckigen Häuser zu einem eigenen sozialen Kosmos werden, mit einer klaren vertikalen Ordnung», so Roth.
Zuunterst sind Ladenlokale, viele der stählernen Tore und Rollläden bleiben verschlossen, oft werden die Räumlichkeiten von Prostituierten gemietet, die bereits in den Morgenstunden in den engen Gassen anzutreffen sind. In den niedrigen, dunklen Geschossen darüber leben oft Migranten und Studierende, etwas höher, im sogenannten Piano Nobile, vielleicht ein älteres genuesisches Paar – und ganz oben, dort wo es Licht und vielleicht sogar eine Dachterrasse gibt, wohnt, wer es sich leisten kann. Das sind immer öfter auch Leute aus der Schweiz.
Nicht erst heute zieht es die Bündner nach Genua, bereits im 19. Jahrhundert kamen Auswanderer. Es war jedoch nicht die Sehnsucht nach dem Meer, die sie hierher zog. Sie kamen, um Geschäfte zu machen. «Um 1850 standen in Genua über 70 Bündner Zuckerbäcker in ihren Backstuben und betrieben mindestens zwölf Läden», erklärt die Historikerin. Berühmt sind dabei vor allem die Klainguti-Brüder geworden; ihre Pasticceria aus dem Jahr 1828 blieb bis 1965 in Familienhand und steht heute noch – derzeit wird sie renoviert.
Schweizer Kapital und Fussball
In Genua erzählt man sich die Geschichte, dass sich die Klainguti-Brüder eigentlich nach Amerika einschiffen wollten, aber dann in der Hafenstadt hängengeblieben seien. Das ist laut der Historikerin eine romantisierte Sicht auf die Einwanderer aus dem Oberengadin, sie hat die Archive gründlich durchforstet. Bereits 1813 war ein «Jean» aus «Samadino, Grisons» im Verzeichnis des Schweizer Konsulats als «Garçon Pâtissier» vermerkt. «Er absolvierte hier eine Lehre und holte später seine Brüder nach», so Roth. «Es waren keine Tagträumer auf der Suche nach Abenteuern im entfernten Westen am Werk, sondern gut ausgebildete und geschäftstüchtige Macher mit Kapital.» Die Auswanderer aus dem Engadin nannte man «Randulis», das ist rätoromanisch für Schwalben. Sie bauten sich hier ein Nest, kehrten aber immer wieder ins Engadin zurück: «Geboren, geheiratet und gestorben wurde wenn immer möglich in der Heimat.»
Jene Engadiner, die es nicht zurück in die Heimat geschafft haben, findet man auf dem Monumentalfriedhof Staglieno. Über zwei Millionen Seelen ruhen hier auf einer Fläche von 50 Fussballfeldern, die von prachtvollen Statuen bevölkert wird. Dabei wurden die Verstorbenen im Stil des Iperrealismo so echt in Marmor dargestellt, dass man meint, sie noch atmen zu sehen.
Platz hat es hier nicht nur für Katholiken, sondern auch für Juden, Muslime, Protestanten und sogar für Konfessionslose. Im Settore protestante ruhen fast nur Schweizer, ihre Grabsteine sind vergleichsweise bescheiden. Die Inschrift von Enrico Pasteur (1882–1958) müssen wir gar von Laub und Ästen befreien. Pasteur stammte aus einer Bankierfamilie aus der Westschweiz und hattte den Fussball nach Italien gebracht.
Gelernt hatte er es bei den Engländern im Schweizer Internat. Nach seiner Ausbildung kehrte er nach Genua zurück und trat dem 1893 gegründeten Fussballklub Genoa bei. Anfangs spielten dort vor allem Engländer und Schweizer, unterstützt von bloss zwei Italienern. Einziger Gegner war damals der CF Torino, der von einem Zuozer gegründet worden war. «Die Schweizer waren also massgeblich an den Anfängen des italienischen Fussballs beteiligt», so Roth.
Tessiner bauten Paläste für Superreiche
Noch weiter zurück führen die Spuren der Schweiz in der Via Garibaldi. Die Prachtstrasse und einige Palazzi, beides Unesco-Weltkulturerbe, wurden Mitte des 16. Jahrhunderts vom Architekten Bernardo Cantoni aus dem heutigen Tessin entworfen und gebaut. Cantoni wanderte schon als 14-Jähriger aus einem kleinen Bergdorf im Muggiotal aus, auf ihn folgten zahlreiche Landsleute, denn diese wurden in Genua dringend gebraucht.
Damals wurde die Stadt von der «febbre del mattone» erfasst, dem Backsteinfieber. Ab 1560 wurden in der Stadt innert zehn Jahren 80 neue Paläste erbaut. «Dies war das goldene Zeitalter Genuas. Die Bauherren hatten als Banker des spanischen Königs sehr viel Geld gemacht. Diese Superreichen bauten sich hier ihre prestigeträchtigen Palazzi, einer prunkvoller als der andere», erzählt Roth.
Ganz in der Nähe ist die Piazza Banchi. Wo heute Bücher verkauft werden, pochte einst das Finanzherz Genuas. Ab dem Mittelalter wurden hier die Finanzgeschäfte abgewickelt. Denn das Banking haben nicht etwa wir Schweizer, sondern die Genueser erfunden. «Sie verwalteten das spanische Gold und Silber in Genua und versorgten den europäischen Markt mit Wertpapieren.» Dies, so Roth, sei wohl der Anfang des Bankenwesens gewesen, und Genua übernahm ab dem 16. Jahrhundert die Rolle einer europäischen Zentralbank.
Licht, Meer und gutes Essen
Frühmorgens wird man vom Geschrei der Möwen geweckt. In den engen Gassen auf dem Weg zum Hafen riecht es nach Fisch vom frischen Fang. Ich möchte endlich meine Füsse ins Wasser strecken. Vom alten Hafen gehts mit dem Navebus nach Pegli, einem Viertel im Westen der Stadt. «Es sieht noch aus wie ein kleines Fischerdorf», erzählt mir Patrizia Zala (52), eine Glarnerin, die ich an Bord kennenlerne. Sie ist nicht bloss als Touristin hier, vor fünf Jahren hat sie sich zusammen mit ihrem Mann, Martin Hösli (56), in Pegli eine Wohnung gekauft. «Es sind drei Minuten zum Strand und in zehn Minuten in anderer Richtung ist man schon mitten im Wandergebiet.» Derzeit kommen sie für Ferien und lange Wochenenden, später wollen sie sich hier ganz zur Ruhe setzen. Was sie hierher gelockt hat: «Das Licht, das Meer und das Essen. Und es ist eine aufregende Stadt.»
Vom Navebus hat man den umgekehrten Blick vom Wasser auf die Stadt und den Hafen, sogar die Flugzeuge sieht man hier landen. An den versprochenen Strand komme ich allerdings nicht, das Schiff kann wegen zu hohem Wellengang nicht anlegen und dreht wieder um. Patrizia Zala nimmts gelassen: «So ist das nun mal hier, es ist nicht alles vorhersehbar. Dafür bleibt man flexibel und lebendig.»
Meine Füsse müssen noch warten, bis wir am nächsten Tag in den Osten von Genua fahren. Nervi, einst ein kleines Fischerdorf, war bereits im 19. Jahrhundert ein beliebtes Ausflugsziel der Genueser Noblesse. Hier baute sie sich prachtvolle Villen und verbrachte den Sommer. Immer mehr Reisende, vor allem Engländer, entdeckten diesen Ort. Es entstanden erste touristische Einrichtungen, wobei drei Schweizer Frauen eine Pionierrolle einnahmen. Bis heute gilt Nervi als schönster Badeplatz in Genua.