Auf einen Blick
«Hätte man mich als jungen Teenie nach meiner sexuellen Orientierung gefragt, hätte ich mich wahrscheinlich als heterosexuell bezeichnet. Ich wusste ja nicht, was im Leben alles auf mich zukommen würde, wen ich treffen und welche Erfahrungen ich machen würde», sagt Lynn. Heute ist sie 19 und lebt in Basel. Ihren richtigen Namen möchte sie im Zusammenhang mit diesem persönlichen Thema nicht öffentlich machen.
Lynn sieht sexuelle Orientierung nicht als etwas Festes, sondern als eine Phase. «Es ist doch logisch, dass man sich im Leben weiterentwickelt.» Zurzeit ist sie in einer Liebesbeziehung mit einer Frau. Wenn sie sich selbst ein Label geben müsste, dann wäre es am ehesten pansexuell, sagt sie. Das heisst, für Lynn hängt es nicht vom Geschlecht ab, wen sie liebt oder begehrt.
Was die junge Schweizerin ganz selbstverständlich ausspricht, ist für viele Menschen ein ungewohnter Gedanke: dass die sexuelle Orientierung nicht fix ist, sondern sich im Laufe des Lebens ändern kann. Eine Langzeitstudie unter der Leitung von Epidemiologe Willi Zhang zeigt nun, dass «sexuelle Identität fluider ist als bisher angenommen». Konkret: Im Zeitraum von 2010 bis 2021 erlebten 15,7 Prozent der über 18-jährigen Menschen in Stockholm eine Veränderung ihrer sexuellen Orientierung – also rund jede sechste Person.
Sexuelle Minderheiten wachsen
Dabei fällt insbesondere auf: Der Anteil der bi- oder homosexuellen Menschen hat im Beobachtungszeitraum zugenommen, vor allem in der jüngeren Bevölkerung. Im Jahr 2021 bezeichneten sich 8,4 Prozent der 16- bis 29-Jährigen als bisexuell (2010: 3,5 Prozent). In der Stockholmer Gesamtbevölkerung sind 3,1 Prozent der Menschen bisexuell (2010: 1,6 Prozent).
Innerhalb der LGBTQ-Community bilden bisexuelle Menschen zahlenmässig die grösste Gruppe. Dies zeigen gross angelegte Befragungen in verschiedenen Ländern, jüngst in Schweden. Doch während Lesben in der Schweiz bereits vor 25 Jahren den Dachverband Lesbenorganisation Schweiz gründeten, und die Schwulen seit 1993 im Dachverband Pink Cross organisiert sind, blieben die Bisexuellen weitgehend unsichtbar.
Erst seit 2022 gibt es den Verein Bisexuell Schweiz, der sich für mehr Sichtbarkeit, Akzeptanz und eine bessere Vernetzung von bisexuellen Menschen einsetzt. «Bisexuelle erleben Vorbehalte oder Ablehnung nicht nur aus der heterosexuellen, sondern auch aus der homosexuellen Gemeinschaft», sagt Vorstandsmitglied Nadia Seiler (36). Alles, was zwischen den binären Polen von homo oder hetero liegt, werde offenbar von vielen Menschen als Bedrohung erlebt. «Es kann eine pragmatische Entscheidung sein, sich als hetero- oder homosexuell zu bezeichnen, um sich den Vorurteilen und möglichen Anfeindungen gegenüber Bisexualität zu entziehen.» Es sei jedoch bekannt, dass eine solche Verleugnung der eigenen Identität mit einem hohen psychischen Leidensdruck und negativen Auswirkungen auf die Gesundheit verbunden sein könne, sagt Bisexuellen-Aktivistin Seiler.
Erst vereinzelt wird Bisexualität in der Populärkultur repräsentiert (etwa durch Catwoman, die Hauptfigur Loki in der gleichnamigen Marvel-Serie oder die Figur Rosa Diaz in der Sitcom «Brooklyn Nine-Nine»). Reale Identifikationsfiguren in der Schweiz sind zum Beispiel Moderatorin Dominique Rinderknecht (35) oder die Queer-Aktivistin und Nationalrätin Anna Rosenwasser (34).
Innerhalb der LGBTQ-Community bilden bisexuelle Menschen zahlenmässig die grösste Gruppe. Dies zeigen gross angelegte Befragungen in verschiedenen Ländern, jüngst in Schweden. Doch während Lesben in der Schweiz bereits vor 25 Jahren den Dachverband Lesbenorganisation Schweiz gründeten, und die Schwulen seit 1993 im Dachverband Pink Cross organisiert sind, blieben die Bisexuellen weitgehend unsichtbar.
Erst seit 2022 gibt es den Verein Bisexuell Schweiz, der sich für mehr Sichtbarkeit, Akzeptanz und eine bessere Vernetzung von bisexuellen Menschen einsetzt. «Bisexuelle erleben Vorbehalte oder Ablehnung nicht nur aus der heterosexuellen, sondern auch aus der homosexuellen Gemeinschaft», sagt Vorstandsmitglied Nadia Seiler (36). Alles, was zwischen den binären Polen von homo oder hetero liegt, werde offenbar von vielen Menschen als Bedrohung erlebt. «Es kann eine pragmatische Entscheidung sein, sich als hetero- oder homosexuell zu bezeichnen, um sich den Vorurteilen und möglichen Anfeindungen gegenüber Bisexualität zu entziehen.» Es sei jedoch bekannt, dass eine solche Verleugnung der eigenen Identität mit einem hohen psychischen Leidensdruck und negativen Auswirkungen auf die Gesundheit verbunden sein könne, sagt Bisexuellen-Aktivistin Seiler.
Erst vereinzelt wird Bisexualität in der Populärkultur repräsentiert (etwa durch Catwoman, die Hauptfigur Loki in der gleichnamigen Marvel-Serie oder die Figur Rosa Diaz in der Sitcom «Brooklyn Nine-Nine»). Reale Identifikationsfiguren in der Schweiz sind zum Beispiel Moderatorin Dominique Rinderknecht (35) oder die Queer-Aktivistin und Nationalrätin Anna Rosenwasser (34).
Die Geschlechterforscherin Fabienne Amlinger (48) von der Universität Bern sagt: «Dass sich die Zahlen in kurzer Zeit so verändert haben, dürfte auch mit gesellschaftlichen Diskursen, mit der Gesetzgebung und der Anerkennung von verschiedenen Lebensformen und sexuellem Begehren zusammenhängen.» Zu welcher sexuellen Orientierung sich ein Mensch bekennt, hängt also auch massgeblich von seinem Umfeld und der Gesellschaft ab, in der er lebt.
Der Psychoanalytiker Udo Rauchfleisch (82) unterstützt in seiner Praxis immer wieder Menschen, die durch die Veränderungen ihrer sexuellen Gefühle irritiert sind und in einer Psychotherapie eine Klärung ihrer Situation suchen. Er sagt: «Es ist mit den sexuellen Orientierungen gleich wie mit vielen anderen Eigenschaften von uns Menschen: Ein Stück weit sind sie anlagemässig vorgegeben, ob und wie sie im Leben gestaltet werden, hängt jedoch von sozialen Faktoren ab und kann sich deshalb auch ändern.»
Udo Rauchfleisch warnt aber: «Fluidity zu akzeptieren, heisst nicht, dass sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten von aussen – durch Zwang – veränderbar sind.» Massnahmen zur Umpolung des sexuellen Empfindens sind in der Schweiz bis heute nicht gesetzlich verboten. Für den Psychotherapeuten ist klar: «Solche Konversionsmassnahmen sind absolut abzulehnen und stellen Menschenrechtsverletzungen dar.»
Anpassung an die dominante Norm
Ein weiteres Fazit der Studie: Personen, die sich 2010 als bisexuell oder homosexuell bezeichneten und später eine Veränderung ihrer sexuellen Orientierung erlebten, stuften sich in den meisten Fällen neu als heterosexuell ein. «Es findet eine Anpassung an die vorherrschende Norm statt», sagt Fabienne Amlinger dazu.
Besonders deutlich lässt sich dies bei Bisexuellen zeigen. Gerade sie erleben häufig einen Shift in ihrer sexuellen Orientierung: 52 Prozent identifizierten sich im Laufe der Studiendauer neu, überwiegend als heterosexuell.
«Der Grund ist aber nicht, dass Bisexuelle unsicherer hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung sind», sagt Psychotherapeut Rauchfleisch. Sondern: «Die Veränderung erfolgt oft wegen des grossen sozialen Drucks, weil unsere Gesellschaft Menschen in klar unterscheidbare, polare Kategorien einordnen möchte und sich durch Personen, die ‹dazwischen› liegen, extrem irritiert fühlt und auf ‹Eindeutigkeit›, also hetero oder homo, drängt.»
Die Baslerin Lynn hat genau das in ihrem Umfeld erlebt. Sie erzählt, dass eine bisexuelle Kollegin, die noch nie eine Freundin hatte, derzeit mit einem Mann zusammen ist. «Viele Leute sind darüber irritiert», sagt sie. Die wiederholten Kommentare und Fragen verunsichern auch die bisexuelle junge Frau. «Meine Kollegin sagt, sie habe im Moment kein Interesse an Frauen – logisch: Sie hat ja einen Freund.» Es sei daher für Frauen in dieser Situation vielleicht einfacher, sich wieder als hetero zu bezeichnen.