Kaum ein Bereich, den wir nicht vermessen und tracken können: Welche Songs habe ich dieses Jahr am häufigsten gestreamt? Wie viele Stunden habe ich geschlafen, wie viele Schritte gemacht?
Und jetzt: Wie war mein Orgasmus? Wie viele Sekunden hat er gedauert? Wie viele Peaks hatte er, war er eher flach oder hatte er ganz viele Ausschläge?
Werkzeug für «Sexperimente»
Möglich macht es eine neue Generation von Sexspielzeugen. Als «weltweit fortschrittlichsten Vibrator» preist ein Schweizer Onlinehändler Lioness an, ein Sextoy aus den USA, entwickelt von Frauen. Ihre Idee: «Wir nennen den Vibrator ein Werkzeug für ‹Sexperimente›», sagt Lioness-Geschäftsführerin und Mitgründerin Anna Lee gegenüber der «New York Times».
Die Aufzeichnungen des Geräts lassen Rückschlüsse darauf zu, wie etwa Alkohol, Kaffee, Stress oder unterschiedliche Uhrzeiten den Orgasmus beeinflussen.
Sensoren im Vibrator registrieren die Kontraktionen des Beckenbodens, dokumentieren das Zusammenziehen und Entspannen der Muskeln in Vagina oder Anus. Diese Bewegungen seien einer der besten Indikatoren für Erregung und Orgasmus, heisst es auf der Lioness-Website.
Das Sextoy stellt diese Informationen in einer Grafik dar, die über eine App auf dem Smartphone aufrufbar ist. Das eigene Erleben lässt sich live auf dem Bildschirm beobachten und später online teilen – sollte man dieses Bedürfnis verspüren.
Lioness verspricht, die gesammelten, im wahrsten Sinne des Wortes intimen Daten komplett zu anonymisieren. Wer will, kann diese der Forschung zur Verfügung stellen. Bereits verfügt das Unternehmen über den weltweit grössten Datensatz zu den physiologischen Sexualfunktionen der Frau.
Ein Akt der Selbstermächtigung
Die Entwicklung passt in unsere Zeit, in der Plüschtiere dank künstlicher Intelligenz mit Kindern Gespräche führen und der Fitnesstracker auch gleich den Blutdruck messen. Und doch ist sie mehr als einfach ein Zeitgeistphänomen. «Der weibliche Orgasmus war jahrhundertelang in der Gesellschaft nicht vorgesehen oder wurde bewusst unterbunden. Die Sexualität der Frau steht bis heute nicht im Mittelpunkt grosser Forschung», sagt Nadia Lehnhard (53) von der Dachorganisation Sexuelle Gesundheit Schweiz.
Wenn nun Frauen mit diesem Sextoy Selbsterforschung betreiben, kann dies daher als Akt der Selbstermächtigung gedeutet werden. Die Sexologin Dania Schiftan sagt: «Egal wie absurd neue Funktionen von Sextoys scheinen mögen: Positiv ist, dass der Fokus auf der weiblichen Sexualität liegt, nachdem diese allzu lange abgewertet wurde.»
Schiftan ist Autorin von zwei Sachbüchern, mit deren Hilfe Frauen lernen können, zum Orgasmus zu kommen. «Selbstermächtigung war die Grundidee zu meinem ersten Buch ‹Coming Soon›», sagt sie. Wisse eine Frau, wie sie zum Orgasmus komme, hole sie sich automatisch auch im partnerschaftlichen Sex immer mehr das, was ihr guttue.
Mit einem Sexspielzeug zum Orgasmus zu kommen, sei für viele Frauen eine Offenbarung, sagt die Sexologin. Aber: «Penis, Zunge, Hände können nicht vibrieren. Wenn sich Frauen mit dem Sextoy sozusagen eine Tanzform angewöhnen, trainieren sie die anderen nicht.» Es lohne sich, ohne technische Hilfsmittel auch andere Nervenenden anzuregen.
Wann ist ein Orgasmus optimal?
So weit, so gut: Frauen betreiben also Feldforschung in eigener Sache. Doch eine reine Spielerei ist die Sache dann doch nicht. «Optimize your orgasm», lautet der Slogan auf der Lioness-Page. Doch was ist ein optimierter Orgasmus? Oder anders gefragt: Wann ist ein Orgasmus optimal?
Lioness bietet Vergleichsdaten an. Demnach kommt eine Frau mit dem Sextoy durchschnittlich in 4 Minuten 19 Sekunden zum Orgasmus. Der Höhepunkt selbst dauert im Schnitt 24 Sekunden. Fast jede 20. Frau erlebt multiple Orgasmen. «Sich mit anderen Leuten zu vergleichen, kann schädlich sein», sagt Jessica Sigerist (37) vom Sexshop Untamed.love. Und kritisiert: «Hier wird der Orgasmus als ultimatives Ziel von Sex zu sehr ins Zentrum gestellt.» Statt den Orgasmus zu vermessen, sei es sinnvoller, über ein lustvolleres Erleben nachzudenken, das nicht auf den Orgasmus fixiert ist.
Orgasmus-Therapeutin Dania Schiftan sagt: «Um die Wahrnehmung zu steigern, kann ein solches Diagramm interessant sein. Aber nicht als Erfolgsbilanz.» Nadia Lehnhard von Sexuelle Gesundheit Schweiz geht noch einen Schritt weiter: «Der Selbstoptimierungsdruck macht auch vor der Sexualität nicht halt. Von unserer Angst, nicht zu genügen und uns ständig verbessern zu müssen, profitiert auch die Sextoy-Industrie – gerade wenn sich der Gedanke festsetzt, dass wir mit einem Sexspielzeug besser ‹funktionieren› können.»
Es stellt sich also die Frage: Ist der Vibrator eine Chance, den in heterosexuellen Beziehungen vorherrschenden Orgasm Gap zu verkleinern und das eigene sexuelle Erleben zu verbessern? Oder führt der vermessene Orgasmus dazu, dass wir immer dem nächsten, gleich guten Höhepunkt hinterherhecheln?
Und überhaupt: Ist ein 24-Sekunden-Orgasmus nach weniger als fünf Minuten Stimulation guter Sex? Jessica Sigerist vom queer-feministischen Sexshop Untamed.love sagt: «Manchmal kann ein Gefühl auch zu intensiv sein. Vielleicht hat man mehr Lust auf zehn Stunden Slow Sex ohne Orgasmus.»
Potenzial von KI-Sextoys
Wie die persönlichen Vorlieben auch immer sind: Smarte Sextoys haben Potenzial. Das sagt Isabelle Schmid (35) vom Sexshop Amorana. Der Shop führt Lioness nicht im Sortiment, dafür aber ein anderes Sextoy mit künstlicher Intelligenz, den Autoblow AI+. Dabei handelt es sich um einen Masturbator, der auf Basis von Hunderten Blowjob-Videos programmiert wurde. «Dank der KI-Funktion kann das Gerät jederzeit mit neuen Blowjob-Techniken auf Zufallsbasis überraschen», erklärt Marketingleiterin Schmid.
Amorana wolle das Sortiment von smarten Sexspielzeugen ausbauen. «Durch die Integration von smarter Technologie können Sextoys personalisiert, interaktiv und benutzerfreundlicher gestaltet werden, was das sexuelle Vergnügen steigern kann.»
Trotzdem ist man unsicher, ob es wie ein Versprechen oder wie eine Drohung klingt, wenn sie sagt: «Wir sind überzeugt, dass KI in Zukunft noch mehr Einzug in den Bereich Sextoys halten wird.»
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