Von der Weide wiehert ein Pferd, ein Mann führt seinen Dackel spazieren. Das Bähnli hält in Rosental nur auf Verlangen – es ist eigentlich ein hundskommuner Weiler zwischen Frauenfeld und Wil. Wäre da nicht das alte Fabrikgebäude. Die hohen Fenster mit Vorhängen abgeschirmt, der Parkplatz an diesem Mittwochnachmittag fast leer.
Hier, mitten im Thurgau, steht der grösste Swingerclub der Schweiz. Auf drei Etagen und 4200 Quadratmetern hat Verena Hug (57) einen Ort geschaffen, an dem sich am Wochenende Menschen aus der ganzen Schweiz zum Sex treffen: die Orangerie. Warmes Licht, opulente Holzmöbel, reich verzierte Wände. Die Thurgauerin steht am Empfang. Kurze blonde Haare, ein ansteckendes Lachen.
Frau Hug, fangen wir mit einem Vorurteil an: Tragen die Leute nur einen Mantel und darunter nichts, wenn sie hier ankommen?
Verena Hug: Das ist ganz unterschiedlich. Die meisten kommen in Alltagskleidung, duschen, ziehen sich in den Garderoben um und machen sich hier zurecht.
Wie im Hallenbad.
Bloss viel gemütlicher und lustiger, die Stimmung ist meist aufgekratzt. Es geht darum, sich wieder einmal schön und begehrenswert zu fühlen.
Wie läuft ein normaler Abend ab?
Frauen tragen ein Kleid, Dessous, Lack oder Leder. Die Männer Hemd und Jeans. Handys bleiben in der Garderobe, damit niemand auf die Idee kommt, Fotos zu machen. Die Gäste essen in unserem Restaurant zu Abend. Danach gibt es Cocktails, Musik, Tanz und Flirts – wie in anderen Clubs auch. Und irgendwann gehen dann die Ersten die Treppe nach oben auf die Galerie.
Dort geht es dann etwas anders zu und her als in herkömmlichen Clubs.
Genau. Es hat viele Liegen, Lounges, Zimmer. Das Motto lautet: Alles kann, nichts muss. Manche haben Sex mit Leuten, die sie gerade kennengelernt haben. Andere haben Sex mit der eigenen Partnerin oder dem Partner, weil sie es heiss finden, wenn jemand zuschaut. Wollen wir uns die Galerie einmal anschauen?
Seit 2006 ist Verena Hug (57) Geschäftsführerin der Orangerie. Sie hat den grössten Swingerclub der Schweiz gemeinsam mit ihrem Mann Urs gegründet, die beiden sind seit 27 Jahren zusammen. Verena Hug ist auf einem Bauernhof im Thurgau aufgewachsen und hat vor der Orangerie lange in der Gastrobranche gearbeitet. Während sich ihr Mann um die Ideen und das Marketing kümmert, ist Verena Hug für das Restaurant und die Gäste zuständig.
Seit 2006 ist Verena Hug (57) Geschäftsführerin der Orangerie. Sie hat den grössten Swingerclub der Schweiz gemeinsam mit ihrem Mann Urs gegründet, die beiden sind seit 27 Jahren zusammen. Verena Hug ist auf einem Bauernhof im Thurgau aufgewachsen und hat vor der Orangerie lange in der Gastrobranche gearbeitet. Während sich ihr Mann um die Ideen und das Marketing kümmert, ist Verena Hug für das Restaurant und die Gäste zuständig.
Gerne. Hier finden ganz verschiedene Partys statt – wie sehr unterscheiden sich die Gäste jeweils?
Der Samstag ist nur für Paare, am Freitag und Sonntag sind auch Singles willkommen. Es gibt die «Hot Chili Young Love», an diese Party kommen nur Leute unter 44 Jahren. An der Inkognito-Party trägt man eine Maske, an der 80er-Party tragen die Gäste Outfits wie in den Filmen «Dirty Dancing» oder «Grease». Im Schnitt sind es zwischen 120 und 190 Leute pro Party.
Welches ist Ihr Lieblingsevent?
Die Herrenüberschussparty. Dort haben Frauen den Plausch, mit einem Haufen Männer Sex zu haben.
Hier ist sie also, die berüchtigte Treppe. Dürfen alle Gäste hinauf?
An den meisten Partys lassen wir Männer, die alleine gekommen sind, nur in Begleitung einer Frau auf die Galerie. Wenn es ums Rumgeiern oder den Frauen Nachseckeln geht, haben wir eine Nulltoleranz.
Also muss man selbst an einem Event, an dem es um Sex geht, auf Glüstler aufpassen?
Das Wichtigste ist, dass sich bei uns alle wohl und sicher fühlen. Das geht nur, wenn niemand aufsässig ist und alle die Regeln verstanden haben: dass man die Grenzen der anderen jederzeit respektiert. Ansonsten sind sie sehr schnell wieder draussen.
Wie streng sind Sie beim Einlass?
Sehr streng, sobald die Grundeinstellung nicht passt. Denn in die Orangerie zu kommen, bedeutet nicht, dass man automatisch Sex hat. Es geht auch hier ums Kennenlernen, Flirten und vor allem um gegenseitige Zustimmung. Wer das nicht akzeptiert, soll es sich gefälligst selber machen oder ins Puff gehen.
Wir stehen auf der Galerie. Es hat Kondome, Kleenex, Duschen und frische Handtücher. Was ist das für eine Sitzbank mit rotem Lederbezug in der Ecke?
Ein sogenannter Strafbock. Den hat mir ein Pärchen geschenkt, weil seine Kinder grösser wurden und es ihn nicht mehr in der Wohnung rumstehen haben wollte.
Und durch dieses Loch hier steckt man den Kopf?
Ich glaube, da steckt man etwas anderes hinein.
Oh, alles klar. Wie sind Sie und Ihr Mann Urs vor 17 Jahren auf die Idee gekommen, einen Swingerclub aufzumachen?
Wir haben uns in einem Restaurant kennengelernt. Er war früher schon ein paar Mal in Swingerclubs in Genf, ich wollte das auch ausprobieren. Aber es gab etwas, das uns beide störte: In keinem einzigen Club gab es ein gutes Restaurant mit feinen Cocktails. Das wollten wir ändern.
Rindsfilet-Carpaccio, Steinpilz-Tortelli, Riesencrevetten: Die Speisekarte ist überraschend vielfältig.
Ich komme aus der Gastronomie, deshalb ist mir eine gute Karte mit frischen, hochwertigen Gerichten extrem wichtig.
Welche Vorurteile haben die Leute?
Viele glauben, dass nur alte Säcke herkommen und es schmuddelig ist. Dabei achten wir enorm auf Sauberkeit und eine heimelige Atmosphäre. Die meisten Gäste sind relativ sportliche und schöne Paare. Immer mehr junge Leute gehen in den Swingerclub, das sehen wir in der Orangerie ganz deutlich.
Wie reagieren die Leute, wenn Sie sagen, was Sie beruflich machen?
Oft erwähne ich das gar nicht. Und wenn, dann kann ich unterdessen gut abschätzen, was mein Gegenüber davon hält. Natürlich ist es völlig in Ordnung, wenn jemand nicht offen ist für das Thema. Aber ich habe es nicht nötig, mich dafür zu rechtfertigen.
Wie gross ist die Hemmung, in einen Swingerclub zu gehen?
Neugierig wären viele, sie trauen sich aber nicht, vorbeizukommen. Eine Frau erzählte mir, dass sie fünf Jahre lang mit dem Zug vorbeigefahren sei, sich aber nie getraut habe, reinzukommen.
Wie viele Frauen kommen hierher?
Letzten Monat waren es 50 Frauen, die komplett ohne Begleitung gekommen sind. Im Vergleich zu anderen Clubs ist das viel. Im Schnitt sind wohl etwa die Hälfte unserer Gäste Frauen.
Wieso gehen sie nicht einfach in eine Bar oder auf Tinder?
Sie sind froh um die Sicherheit in der Orangerie. Statt alleine irgendwo bei einem Date zu Hause sind sie ständig unter Leuten.
Wie hat sich die Sexualität der Frauen in den letzten Jahren verändert?
Sie wissen viel eher, was sie wollen, und trauen sich, es sich zu nehmen. Ich sage ihnen aber immer, dass es völlig egal ist, was andere von ihnen halten. Was zählt, ist das, was sie selber wollen. Es ist deshalb extrem wichtig, dass sie für ihre Bedürfnisse einstehen.
Haben Sie schon alles gesehen oder kann Sie die Sexualität der Menschen noch überraschen?
Ich würde sagen, dass die meisten Menschen ziemlich «herkömmlichen» Sex haben. Was mich einmal überrascht hat, war das Fisting – jemand steckte die ganze Faust in die Vagina einer Frau. Das war noch relativ harmlos, es gibt aber auch Dinge, die ich hier drin ganz klar nicht sehen will.
Zum Beispiel?
Alles, was mit Fäkalien zu tun hat. Auch für BDSM, also sadomasochistische Praktiken, sind wir der falsche Club. Klar, wir haben ein paar Fesseln für Bondage, sozusagen BDSM light. In Zürich gibt es Clubs, die darauf spezialisiert sind. Wer darauf steht, soll lieber dorthin gehen. Auch bei Drogen oder zu viel Alkohol sind wir sehr strikt.
Was macht es mit einem, wenn man swingt?
Ich fühle mich freier, inspirierter, habe wieder neue Ideen. Es ist ein Ausbrechen aus dem Alltag. Man kann sich wieder einmal begehrt, lebendig und wild fühlen. Von vielen höre ich, dass das manchmal fehlt – besonders in langjährigen Beziehungen.
Und dann kommen die Paare zusammen her?
Genau, statt heimlich zu flirten, wollen sie gemeinsam ein Abenteuer erleben. Meist erzählen sie ihrem Umfeld nichts davon. Es ist ihr kleines, aufregendes Geheimnis. Das kann zusammenschweissen. Ich bin überzeugt: Je mehr man der anderen Person zugesteht, desto länger bleibt man zusammen. Ob beim Flirten in der Bar oder hier in der Orangerie – Sex ist das, was uns antreibt.
Ist es nicht viel eher die Sehnsucht nach Verbindung, nach Liebe, die uns antreibt?
Ach, Quatsch. Die meisten gehen doch in den Ausgang, um wieder einmal diesen Reiz zu spüren: Aufmerksamkeit, ein Kribbeln im Bauch, Erregung, Herzklopfen. Dieses einmalige Gefühl, wenn man etwas zum allerersten Mal macht oder jemanden kennenlernt. Ein Gefühl, das viele immer wieder suchen.
Aber tiefe Beziehungen sind doch genauso schön.
Natürlich. Das, was man gemeinsam aufgebaut hat, ist etwas vom Wichtigsten überhaupt und absolut schützenswert. Aber das ist etwas ganz anderes als dieser Kick beim ersten Kennenlernen.
Dieser schnelle Kick ist also eine Art Wegwerfartikel?
Naja, als etwas anderes ist er ja auch nicht gedacht. Mit ehrlicher Liebe hat das nichts zu tun. Mein Mann sagt auch nach 27 Jahren Beziehung noch: ‹Du bist so eine Schöne, ich bin so froh, dass du da bist.› Das schliesst sich gegenseitig nicht aus. Aber Swingen hält jung! Nach einem richtig guten Abend mit Tanzen und Ficken bin ich nicht müde, auch wenn ich nur ein paar Stunden geschlafen habe.
Was waren die schönsten Erlebnisse in 17 Jahren Orangerie?
Immer toll waren die Beziehungen, die hier entstanden sind. Obwohl ich jeweils sage: Die Orangerie ist nicht der Ort, um Beziehungen zu finden oder zu retten. Aber natürlich kann beides vorkommen.