«Männer schämen sich, wenn sie keine Lust auf Sex haben»
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Sexologin Amelie Boehm:«Männer schämen sich, wenn sie keine Lust auf Sex haben»

Sexologin Amelie Boehm über Unlust im Bett
«Ich erteile auch mal ein Sex-Verbot!»

Die Lust auf Sex schwindet: Denn auch Männer wollen und können nicht immer. Sexologin Amelie Boehm (36) hilft ihnen, Dinge zu formulieren und ihr Becken in Schwung zu bringen.
Publiziert: 24.02.2024 um 17:30 Uhr
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Aktualisiert: 24.02.2024 um 17:38 Uhr
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Sie berät Männer und Frauen rund um Sexualität: Psychologin Amelie Boehm.
Foto: STEFAN BOHRER
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Katja RichardRedaktorin Gesellschaft

Blick: Männer haben laut Umfragen weniger Lust im Bett. Ist das auch Thema in Ihrer Praxis?
Amelie Boehm: Ja, das nehme ich auch in meiner Arbeit wahr. Laut verschiedenen Umfragen sind etwa 15 Prozent der Männer in westlichen Industrieländern betroffen, Tendenz steigend. Vielleicht getrauen sich Männer heutzutage auch eher, zuzugeben, dass sie keine Lust haben. 

Warum fällt das Männern schwer?
Viele haben einen hohen Anspruch an sich: Ich sollte doch immer können und wollen. Keine Lust auf Sex – das ist etwas, das man in seinem Umfeld nicht gerne zugibt. Nicht mal gegenüber seinem besten Freund.

Ihnen gegenüber können Sie es eher?
Viele sind erleichtert, reden zu können, ohne sich Sorgen zu machen, dass jemand davon erfährt. Es geht auch um Sprachlosigkeit. Mein Job ist es zu helfen, Dinge zu formulieren. 

Lustlos im Bett: In westlichen Industrieländern haben die Menschen weniger Sex.
Foto: Getty Images/Westend61

Warum geht ein Mann zu einer Frau in eine Sexualtherapie?
Es kommen ja nur jene, für die das stimmt. Wenn man seine intimen Probleme einer Frau erzählt, geht es nicht darum, wer der potentere Mann ist. 

Was ist Ihr Vorteil als Frau?
Gerade weil ich körperlich nicht gleich bin und mich nicht voll einfühlen kann, muss ich viel und konkret nachfragen. Dadurch denken die Klienten auch gründlicher über Dinge nach, die sie noch nicht so betrachtet haben. Auch wenn ich Frauen berate, gilt das. Ich darf nicht davon ausgehen, zu wissen, was in einem Menschen vorgeht. Das kann mir nur mein Gegenüber erzählen, egal ob Mann oder Frau.

Die Sexologin

Amelie Boehm (36) stammt ursprünglich aus Dresden. Nach ihrem Psychologiestudium in London und Berlin hat sie als Personalchefin in der Wirtschaft gearbeitet und Führungskräfte beraten. Durch Zufall stiess sie auf die Ausbildung als Master of Arts in Sexologie am ISP Merseburg und hat darin ihre Berufung gefunden. Boehm ist überzeugt, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Sexualität als bereichernd und erfüllend zu erleben. Ihre Praxis hat sie vor zwei Jahren in Basel eröffnet, wo die zweifache Mutter auch lebt.

Berät Menschen für eine erfüllende Sexualität: Amelie Boehm.
STEFAN BOHRER

Amelie Boehm (36) stammt ursprünglich aus Dresden. Nach ihrem Psychologiestudium in London und Berlin hat sie als Personalchefin in der Wirtschaft gearbeitet und Führungskräfte beraten. Durch Zufall stiess sie auf die Ausbildung als Master of Arts in Sexologie am ISP Merseburg und hat darin ihre Berufung gefunden. Boehm ist überzeugt, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Sexualität als bereichernd und erfüllend zu erleben. Ihre Praxis hat sie vor zwei Jahren in Basel eröffnet, wo die zweifache Mutter auch lebt.

Was braucht es, dass ein Mann wegen Lustlosigkeit Hilfe sucht?
Einen hohen Leidensdruck. Oder auch den Druck in der Beziehung. Oft kommt ein Mann wegen seiner Partnerin oder sogar zusammen mit ihr. Dann ist es wichtig, abzuklären, ob das Problem in der Beziehungsdynamik liegt. Sex ist nicht immer das Problem. Je nachdem schicke ich jemanden auch weiter in eine Paartherapie. In der Regel arbeite ich mit jemandem allein.

Männer in der Krise: Unlust ist etwas, worüber viele nicht sprechen können.
Foto: Getty Images/Cavan Images RF

Warum?
Weil es so oft leichter fällt, über das Intimste zu sprechen. Man kann über Dinge reden, die man noch niemandem anvertraut hat. Und man muss sich nicht sorgen, die Partnerin zu verletzen oder zu verärgern.

Kommen eher ältere oder jüngere Männer wegen Lustlosigkeit?
Mein ältester Klient ist 64, für ihn ist das auch ein Thema. In diesem Alter schicke ich den Mann zuerst zum Urologen, um das Testosteronlevel zu checken. Denn gerade im Alter kann Lustlosigkeit körperlich bedingt sein. Männer kommen genauso in eine hormonelle Veränderung wie die Frauen. Bei den Jüngeren ist Lustlosigkeit oft psychologisch. 

Geht es dabei um Erektionsstörungen?
Ein Mann kann auch ohne Lust eine Erektion haben. Genauso wie eine Frau feucht sein kann, ohne dass sie gleich Sex will. Funktional mag alles stimmen, aber die Lust ist was anderes. Ich hatte einen jüngeren Klienten, der das in seiner Ehe erlebt hat. Er hat mit seiner Frau geschlafen, obwohl er sich nicht danach gefühlt hat. Seit der Trennung vor zwei Jahren hat er keine Lust mehr auf Sex. Für ihn ist das fremd und verwirrend, vorher hatte er immer Sex, seit er 17 ist. 

Muss man immer Sex haben?
Durchaus nicht. Es lohnt sich, die Frage zu stellen: Leide ich darunter, keinen Sex zu haben? Oder verurteile ich mich selber, weil ich glaube, dass ich ihn haben müsste? Sex, um dem anderen einen Gefallen zu tun oder der Harmonie willen, damit rate ich zur Vorsicht. Männern genau so wie Frauen. Man überschreitet damit seine eigenen Grenzen, und langfristig kann das ein echter Lustkiller sein. Vielleicht ist es ganz gut, mal eine Pause einzulegen.

Lustkiller Kinder: Nach der Geburt ist eine Flaute ganz normal.
Foto: Getty Images/Westend61

Wie lang kann so eine Pause sein?
Es kommen Leute zu mir, die machen sich schon Sorgen, wenn sie eine Woche keine Lust verspüren. Und ich werde oft gefragt, was normal ist und was nicht. Was wirklich zählt, ist die eigene Wahrnehmung und die Lebenssituation. Nachdem ein Baby gekommen ist, haben manche ein ganzes Jahr keine Lust mehr. Und das ist in Ordnung. Sex darf in der Prioritätenliste auch mal nach unten rutschen. Das Leben verändert sich, genau so auch die Sexualität. Es gibt Paare, die sind happy ohne Sex.

Eine Beziehung ohne Intimität, funktioniert das?
Wenn es für beide stimmt, warum nicht? Wichtig finde ich, Sex und Geschlechtsverkehr auseinanderzuhalten. 

Warum?
Für die meisten von uns fängt Sex viel früher an. Beim Küssen und Knutschen, beim Ausziehen. Wenn man dabei immer im Kopf hat, dass das zur Penetration führen muss, kann das Druck aufsetzen. Darum gibt es Paare, die nicht einmal mehr Lust haben, sich zu küssen. Ich erteile auch mal ein Sex-Verbot, das nimmt den Druck raus. Dafür gebe ich beispielsweise die Aufgabe mit, nackt zu kuscheln. Das kann sehr schön sein und viel Nähe geben. 

Küssen und Knutschen kann auch lustvoll sein, wenn man nicht bis zum Ende geht.
Foto: ddp images

Was sind typische Lustkiller?
Kinder oder auch Eltern im Haus. Lärm oder Müdigkeit. Für manche ist es auch ein Geruch. Stress ist der häufigste Lustkiller, weil es auf der körperlichen Ebene alles hemmt. Aus gutem Grund, denn Stress signalisiert Gefahr. Ein Teil unseres Gehirns funktioniert noch immer wie in der Steinzeit, als wir fürchten mussten, dass uns ein Säbelzahntiger überfällt.

Aber heute gibt es keine Säbelzahntiger mehr.
Ja, aber keine Lust zu haben, kann auch heute eine gesunde Reaktion sein. Es ist wichtig, seinen Körper zu spüren und sich eine Pause zu gönnen. 

Intimität und Nähe kann man auch ohne Sex geniessen.
Foto: Getty Images

Wir arbeiten immer mehr mit dem Kopf.
Ja, und das Tempo hat sich erhöht. Die ständige Erreichbarkeit, Kinder und Familie, da fällt es oft nicht so leicht, in die Sinnlichkeit zu kommen. Darum arbeite ich hier in der Praxis viel mit dem Körper.

Wie muss man sich das vorstellen?
Gerade Männer sind oft steif im Becken, ich zeige ihnen Übungen, mit denen sie in Bewegung kommen. So wird auch der Intimbereich durchblutet, die Lenden werden gelockert. Wer zu früh kommt, ist oft verspannt. Bewegung hilft immer. Ich hatte mal einen jungen Klienten, der im Lauf seines Beratungsprozesses viel Gewicht verloren hat und jetzt viel Sport treibt. Dadurch hat sich sehr viel bei ihm verändert. Auch wenn die Lustlosigkeit eher emotional bedingt ist, kann man sie über den Körper befeuern. 

Die Rollenbilder von männlich und weiblich ändern sich. Männer scheinen dadurch besonders verunsichert.
Es ist eine gesellschaftliche Veränderung, die sicherlich einen Einfluss auf die sinkende Lust hat. Bislang standen Frauen einfach zur Verfügung; es war lange Zeit normal, dass ein Mann in der Ehe einfach sexuell auf sie zugreifen kann. Das hat sich zum Glück geändert, Frauen emanzipieren sich und fordern ihre Bedürfnisse ein. Das ist für viele Männer verunsichernd, denn oft kennen sie nicht mal ihre eigenen Bedürfnisse. 

Wie viel Feminismus hat Platz im Bett?
Viel, wenn beide parat sind. Oft wird das Wort Feminismus missverstanden, weil viele denken, es gehe dabei nur um Frauen. Aber es geht um Gleichberechtigung und einen diskriminierungsfreien Umgang miteinander. Beide dürfen ihre Bedürfnisse mitteilen. Das gibt ein Gefühl von Sicherheit. So kann man Neues ausprobieren im Bett. Über Sex zu reden, ist keineswegs unsexy.

Über Sex reden: Das ist keineswegs unsexy.
Foto: Getty Images/fStop

Viele sagen, dass genau das ein Ablöscher ist: im Bett diskutieren.
Weil uns das nirgendwo vorgelebt wird, weder im Porno noch in Hollywood. Auf der Leinwand funktioniert Leidenschaft ohne Worte. In unserem Alltag manchmal auch, aber nicht für immer und ewig. Über Sex reden kann lustfördernd sein. Egal ob vor dem Sex, während oder danach. Man kann sich auch auf einem Spaziergang austauschen, so wie es für jeden stimmt. 

Die 1960er-Jahre haben uns sexuell befreit, sind wir nun wieder prüder geworden?
Damals bedeutete sexuelle Freiheit, dass man so viel rumvögeln darf, wie man will. Es ist ganz normal, dass das Pendel auch mal in eine andere Richtung schwingt. Die Jungen heute haben später Sex, suchen romantische und verbindliche Beziehungen. Sie sind nicht weniger frei, aber entscheiden sich für was anderes.

Trotz aller Freiheit sind wir gehemmt. Wären wir ohne Scham besser dran?
Kürzlich habe ich einen Bericht gelesen über eine Insel im Kongo, wo jeder Bräutigam auf seine Hochzeitsnacht vorbereitet wird. Am nächsten Tag wird seine Frau gefragt, ob sie befriedigt ist. Falls nicht, gibt es Nachhilfe. Die wissen einfach, dass guter Sex die ganze Gemeinschaft zufriedener macht und darum im Interesse aller ist. 

Bei uns weiss man alles über Sex, und doch ist es etwas sehr Privates.
Das ist auch völlig in Ordnung. Interessant an diesem Beispiel aus Afrika ist, dass diese sexuelle Offenheit und Erziehung überall auf dem Kontinent verbreitet war – bis die Missionare gekommen sind. Zu viele Regeln sind eine Möglichkeit, Menschen zu kontrollieren. Moral kann auch eine Spassbremse sein.

Sie sind selber Mutter. Was soll man seinen Kindern beibringen?
Aufklärung ist eine wichtige Verantwortung. Sonst suchen sich die Jungen ihre Informationen selbst und sehen im Internet womöglich Dinge, die nicht altersgerecht sind und nichts mit ihrer Sexualität zu tun haben. Wichtig ist, ihnen beizubringen, auf ihre Grenzen zu achten und gut für sich zu sorgen. Damit sie später mal lustvollen Sex haben können.

Warum ist Sex wichtig für uns?
Es geht um weit mehr als Fortpflanzung. Daran ist so vieles, das sich gut anfühlt. Die emotionale Nähe, die körperlichen Empfindungen und all die Vorteile, die ein Orgasmus mit sich bringt. Sex ist gut für unseren Selbstwert, zu begehren und begehrt werden. Aber wenn man ohne zufrieden ist, soll man sich keinen Stress machen. Die schönste Nebensache der Welt darf durchaus auch Nebensache sein. 


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