Sabrina Sanchez, Direktorin von 120'000 Sexarbeiterinnen, über die EU-Pläne und die «Hölle Zürich»
«Handwerker verdienen ihr Geld dank ihrer Hände, wir dank unserer Genitalien»

In der EU wird ein europaweites Prostitutionsverbot angestrebt. Im Interview sagt Sabrina Sanchez, Direktorin des grössten europäischen Sexarbeiterinnen-Verbandes, warum sie klar dagegen ist.
Publiziert: 22.02.2024 um 11:57 Uhr
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Aktualisiert: 22.02.2024 um 22:57 Uhr
Sabrina Sanchez vertritt Tausende Sexarbeiterinnen in Europa – und hält ein Prostitutionsverbot für eine Schnapsidee.
Foto: ESWA
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Guido FelderAusland-Redaktor

Folgt bald ein Prostitutionsverbot in ganz Europa? Die Mitglieder des EU-Parlaments haben vor kurzem einen Antrag unterstützt, in dem sie die EU-Staaten auffordern, Freier zu bestrafen. Vorbild ist Schweden, wo Kunden sowie Vermieter von Räumen für Sexarbeiterinnen systematisch verfolgt und verurteilt werden. In Brüssel herrscht über die Forderung jedoch keine Einigkeit. Vergangene Woche schrieb die Europarat-Menschenrechts-Kommissarin Dunja Mijatović (59) aus Bosnien-Herzegowina in einem Kommentar, dass man Sexarbeit entkriminalisieren und gleichzeitig die Rechte von Sexarbeitenden schützen soll. 

Auch die Betroffenen selber, die Sexarbeiterinnen, wehren sich vehement gegen ein Verbot. Sabrina Sanchez (42), Direktorin der European Sex Worker Rights Alliance (ESWA), sprach mit Blick im Interview darüber, worin sie den Unterschied zwischen ihrer Arbeit und der Arbeit eines Handwerkers sieht. Und, weshalb bei einem europaweiten Prostitutionsverbot der Schuss nach hinten losgehen würde – und warum sie bald schon in Zürich arbeiten wird.

Sabrina Sanchez, Sie bieten als Sexarbeiterin Ihren Körper gegen Geld an. Warum machen Sie das?
Sabrina Sanchez:
In unserem kapitalistischen System bieten alle von uns Teile unseres Körpers an. Handwerker ihre Hände, wir unsere Genitalien und noch mehr unser Hirn. Zu sagen, nur Sexworker würden ihren Körper anbieten, ist falsch. 

Welche Rolle spielt das Hirn bei Ihrer Arbeit?
Das brauchen wir vor allem bei der Werbung. Wir müssen zum Beispiel wissen, wann die meisten Besucher auf einer Webseite sind und wann wir welche Werbung hochladen müssen. Wir setzen ganz viel Köpfchen ein, die Arbeit mit unseren Genitalien macht nur einen kleinen Teil aus. 

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Für Sabrina Sanchez ist ein Prostitutionsverbot diskriminierend, da es Sexarbeitenden das Recht auf Selbstbestimmung nimmt.
Foto: ESWA

Wie sind Sie zu dieser Arbeit gekommen?
Ich habe einen Abschluss in Kommunikation und spreche drei Sprachen. Weil ich aber nach meiner Ankunft aus Mexiko in Europa vor 18 Jahren keinen EU-Pass hatte und keine andere Arbeit finden konnte, habe ich mit Sexarbeit begonnen. 

Arbeiten Sie nur des Geldes wegen, oder macht Ihnen Ihr Job auch Spass?
Kennen Sie eine Kassierin im Supermarkt, die ihren Job liebt? In unserem System müssen wir doch einfach jene Option wählen, die für uns weniger schlimm ist. Um in der kapitalistischen Welt zu überleben, spielt es keine Rolle, ob man seinen Job liebt oder nicht. Wichtig ist, dafür zu sorgen, dass man den Job sicher ausüben kann. 

Gerade die Sicherheit und die Würde der Sexarbeiterinnen – es sind ja in der grossen Mehrheit Frauen – sind der Grund, dass das Europäische Parlament europaweit ein Prostitutionsverbot einführen will, wie es Schweden seit 1999 kennt. Ist das die Lösung?
Überhaupt nicht. Es ist nutzlos und eine moralische Fehlzündung, weil es nicht auf die sozialen, wirtschaftlichen und diskriminierenden Ursachen eingeht, die uns überhaupt zur Sexarbeit bringen. Ein Verbot nimmt Sexarbeitenden das Recht auf Selbstbestimmung und treibt die Prostitution in den Untergrund.

Direktorin von 120’000 Sexarbeitenden

Sabrina Sanchez (42) ist Direktorin der European Sex Worker Rights Alliance (ESWA) mit Sitz in Amsterdam (Niederlande), die sich für die Rechte von Sexarbeitenden einsetzt. Die ESWA vereinigt über 100 Organisationen in 30 Ländern Europas und Zentralasiens, denen laut Sanchez rund 120’000 Sexarbeitende angehören. Sie stammt aus Mexiko und lebt seit 18 Jahren als Trans-Sexworkerin in Europa, zuerst in Spanien, dann Niederlande und neu in Berlin. Sie hat einen Partner, der in einem andern Bereich arbeite und ihren Job «völlig akzeptiert».

Sabrina Sanchez (42) ist Direktorin der European Sex Worker Rights Alliance (ESWA) mit Sitz in Amsterdam (Niederlande), die sich für die Rechte von Sexarbeitenden einsetzt. Die ESWA vereinigt über 100 Organisationen in 30 Ländern Europas und Zentralasiens, denen laut Sanchez rund 120’000 Sexarbeitende angehören. Sie stammt aus Mexiko und lebt seit 18 Jahren als Trans-Sexworkerin in Europa, zuerst in Spanien, dann Niederlande und neu in Berlin. Sie hat einen Partner, der in einem andern Bereich arbeite und ihren Job «völlig akzeptiert».

Die schwedische Regierung spricht aber von einem Erfolg.
Was die Regierung sagt, wird von keiner Organisation unterstützt, die wirklich ernsthafte Studien durchgeführt hat. Neben unserer Organisation sprechen sich zum Beispiel auch Amnesty International und Human Rights Watch gegen ein Prostitutionsverbot aus. 

Was muss geschehen?
Der Europarat verfolgt ein anderes Modell. Der Kommissar für Menschenrechte hat eben vorgeschlagen, Prostitution zu entkriminalisieren, so wie es Neuseeland vor 20 Jahren gemacht hat. Dazu gehört auch, dass Sexarbeiterinnen vermehrt konsultiert und in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. 

Es gibt aber unbestritten Gewalt gegen Sexarbeiterinnen. Wie kann man sie dagegen schützen?
Natürlich kann es zu gefährlichen Momenten kommen. Aber Gewalt erleben auch Polizisten und andere Berufstätige. Für uns braucht es Massnahmen, die nicht Politiker ausdenken, sondern die in Zusammenarbeit mit uns entworfen werden.

Was zum Beispiel?
Es braucht eine konsequente Einhaltung von bestehenden Gesetzen, mit denen man Zuhälter und Schlepper zur Rechenschaft ziehen kann. Man könnte zudem ein Gesetz ausarbeiten, das einen Angriff auf eine Sexarbeiterin als gleich gravierend einstuft wie einen Angriff auf einen Polizisten.

Wie kann man verhindern, dass Kunden gewalttätig werden?
Es ist eigenartig, dass man denkt, dass die Gewalt hauptsächlich von den Kunden ausgeht. Vielmehr sind die grössten Quellen der Gewalt laut Umfragen unter Sexarbeiterinnen die Polizei, Behörden, Ärzte, Lehrer. Diese Erkenntnisse stammen zwar aus Südamerika. Die gleiche Umfrage führen wir aber zurzeit auch in Europa durch, und erste Auswertungen zeigen ein ähnliches Bild. 

Vor kurzem wurde Zürich in einer Reportage der britischen Zeitung «Sun» als «Prostitutions-Hölle Europas» bezeichnet. Ist es in der Schweiz wirklich so schlimm?
Man muss Berichte von solchen Boulevard-Medien kritisch anschauen. Ich habe einige Kolleginnen aus Spanien, die in der Schweiz arbeiten, weil sie da mehr Rechte haben und sich – weil sie sich registrieren lassen müssen – von der Polizei geschützt fühlen. Ein Problem ist für meine Kolleginnen höchstens, dass wegen der guten Bedingungen andere Frauen aus dem Ausland kommen und der Konkurrenzdruck wächst. 

Die Schweiz ist also keine Prostitutions-Hölle?
Überhaupt nicht. Es ist ein sehr guter Platz für diesen Job. Man kann sehr gutes Geld machen. Nachdem ich einen EU-Pass bekommen habe, wird die Schweiz einer meiner nächsten Arbeitsorte sein.

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