Psychologische Selbsthilfe
«Richtig niederlassen können wir uns hier nicht»

In Dübendorf ZH leiten die Psychologinnen Anna Gribachova (39) und Maria Machykova (35) eine Selbsthilfegruppe für ukrainische Flüchtlinge. Auch drei Jahre nach Kriegsbeginn kämpfen diese mit Isolation und Integrationshürden. Blick war bei einem Treffen dabei.
Publiziert: 12:00 Uhr
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Aktualisiert: vor 41 Minuten
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Die ukrainischen Psychologinnen Anna Gribachova und Maria Machykova haben sich im März 2022 bei einer Demonstration in Zürich kennengelernt. Beide sind kurz zuvor mit ihren Kindern aus Kiew in die Schweiz geflüchtet.
Foto: Kim Niederhauser

Auf einen Blick

  • Ukrainische Flüchtlinge treffen sich wöchentlich in einer psychologischen Selbsthilfegruppe
  • Die Teilnehmerinnen schätzen die wertfreie Atmosphäre und den vertraulichen Austausch
  • Schutzstatus S und nicht anerkannte Diplome gestalten die Niederlassung und Jobsuche in der Schweiz schwierig
  • 68'000 ukrainische Flüchtlinge unter Schutzstatus in der Schweiz
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Ravena FrommeltRedaktorin Gesellschaft

Manchmal kommen fünf, manchmal zwanzig Personen. Immer donnerstags treffen sich ukrainische Flüchtlinge in einem Raum der Reformierten Kirche Dübendorf ZH. Anna Gribachova (39) und Maria Machykova (35) leiten die Treffen – auch sie sind aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet. Beide haben in ihrer Heimat Psychologie und Recht studiert. Kennengelernt haben sie sich an einer Demonstration für die Ukraine in Zürich.

«Wir Flüchtlinge waren anfangs völlig desorientiert und unter Schock», erzählt Gribachova, die heute mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Zürich wohnt. Machykova lebt mit ihrer Tochter in Luzern, ihr Mann ist immer noch in der Ukraine. Die beiden Frauen wollten sich mit anderen Ukraine-Flüchtlingen austauschen und veranstalteten bereits ab April 2022 regelmässig psychologische Selbsthilfegruppen im Zürcher Debattierhaus «Karl der Grosse».

Neue Themen aber alte Probleme

Im ersten Kriegsjahr habe es unter der Schweizer Bevölkerung eine grosse Welle der Unterstützung gegeben, die den Neuankömmlingen half. «Mittlerweile hat diese Unterstützung jedoch stark abgenommen», sagt Gribachova. Nun sei es schwieriger, in der Schweiz einen Job oder eine Wohnung zu finden und Freundschaften zu knüpfen. «Wir brauchen auch jetzt noch Unterstützung von Schweizern. Ohne sie ist Integration unmöglich.»

Machykova und Gribachova sind im Verein Von der Migration zur Integration dabei und bieten seit Juli 2022 die wöchentliche Selbsthilfegruppe in Dübendorf an. Eine, die regelmässig zu den Treffen kommt, ist Olga Kostenko (38). Sie sagt, in den vertraulichen Gruppengesprächen gebe es immer wieder neue Themen, doch auch Probleme, die dieselben bleiben. «Du bist alleine mit Kindern, und andere sind in derselben Situation und verstehen dich, den Verlust deiner Heimat, den Abschied von Familie und Freunden. Auch kennen sie die Missverständnisse mit Ärzten oder Sozialarbeitern und die schwierige Jobsuche.»

Kostenko bemüht sich nun schon das dritte Jahr um eine berufliche Perspektive in der Schweiz. Sie spricht mittlerweile fliessend Deutsch, eine Hürde bei der Jobsuche ist der unsichere Schutzstatus S, der so lange gilt, bis der Bundesrat die Aufhebung beschliesst.

Der Status S ist ein Hindernis. Ein weiteres, dass ukrainische Diplome in der Schweiz nicht anerkannt sind. «Wir dürfen uns hier nicht als ‹Psychologinnen› bezeichnen», sagt Machykova, die in der Ukraine doktoriert hat. Für die Leitung der Gruppe in Dübendorf bekommen sie und ihre Kollegin eine kleine Entschädigung. «Wir bemühen uns aktiv um Eigenständigkeit und arbeiten bereits. Aber wir leben von Sozialhilfe, wie alle Teilnehmerinnen hier auch», sagt Gribachova.

Die grosse Frage: Bleiben oder gehen?

Viele Geflüchtete seien heute an einem Punkt, an dem sie entscheiden müssten: Bleibe ich in der Schweiz oder kehre ich zurück in die Ukraine? «Der Stresspegel unter Ukrainern ist aufgrund des andauernden Konflikts und der Unsicherheit des Flüchtlingsstatus deutlich gestiegen», sagt Machykova. Zurück in Gebiete wie Mariupol können sie nicht mehr, die Stadt liegt in Trümmern. «Gleichzeitig haben wir aber auch keine richtige Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz, also wirklich niederlassen können wir uns auch nicht.» Sie nehmen eine erhöhte Nachfrage nach ihren psychologisch unterstützten Gesprächsrunden wahr. «Wir planen deshalb weitere Aktivitäten – neue Gruppen und Treffen in anderen Städten», so die Psychologin. Dafür seien sie und Gribachova jedoch auf finanzielle Unterstützung angewiesen.

Drei Jahre Ukraine-Krieg in Zahlen

Am 24. Februar 2025 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine zum dritten Mal. Bis Januar 2025 haben laut Schätzungen des UN-Flüchtlingskommisariats (UNHCR) rund 6,8 Millionen Menschen aus der Ukraine infolge des Krieges Zuflucht im Ausland gefunden. In der Schweiz befinden sich nach aktuellen Zahlen des Staatssekretariats für Migrations (SEM) 68’000 ukrainische Flüchtlinge unter Schutzstatus.

Am 24. Februar 2025 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine zum dritten Mal. Bis Januar 2025 haben laut Schätzungen des UN-Flüchtlingskommisariats (UNHCR) rund 6,8 Millionen Menschen aus der Ukraine infolge des Krieges Zuflucht im Ausland gefunden. In der Schweiz befinden sich nach aktuellen Zahlen des Staatssekretariats für Migrations (SEM) 68’000 ukrainische Flüchtlinge unter Schutzstatus.

Die Teilnehmerin Maria Uspenska (35) sagt, sie hätte ihre Heimat niemals freiwillig verlassen. «Ich liebe meine Stadt Charkiw, die tolle Atmosphäre, die kulturellen Events, die wunderschöne Natur.» Doch auch Charkiw wurde zerstört und wird nie wieder sein wie vorher. Das Gebäude, in dem die 35-Jährige früher klassischen indischen Tanz unterrichtet hat, existiert nicht mehr. Uspenska gibt heute ehrenamtlich Tanzworkshops in der Schweiz. Zuerst hatte sie in der Ukraine Management und Tourismus studiert und in der Reisebranche gearbeitet, während ihrer Zeit in der Schweiz hat sie zudem online ein Psychologiestudium absolviert. Doch auch sie ist seit drei Jahren auf Jobsuche und wohnt in einem Flüchtlingsheim.

«Es hilft zu verstehen, dass Frustration normal ist»

Die Gruppentreffen in Dübendorf helfen ihr vor allem gegen die Isolation. «Im Kreis von Personen zu sein, die ähnliche Dinge durchmachen, hilft mir zu verstehen, dass es normal ist, frustriert und wütend zu sein, zum Beispiel während Feiertagen.» Diese Tage seien nicht nur besonders schlimm, weil sie nicht bei ihrer Familie sein könne, sondern auch, weil Russland gerade dann wieder Angriffe führe, «um uns niederzumachen und Druck auszuüben».

Über Politik spricht die Selbsthilfegruppe in Dübendorf nicht oft. Doch die Teilnehmerinnen sind sich einig, dass der Krieg nicht so bald enden wird. «Ich glaube nicht an eine schnelle Lösung. Auch wenn es eine längere Kriegspause geben sollte, wird Russland diese nur nutzen, um sich für weitere Angriffe zu rüsten», sagt Olga Kostenko. Sie wünscht sich, mit ihrem sechsjährigen Sohn in der Schweiz bleiben und ihm eine sichere Zukunft ermöglichen zu können.

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