Psychologe erklärt, wie Empathie funktioniert
«Kriegspropaganda will andere entmenschlichen»

Peter Wilhelm (58) forscht an der Universität Freiburg zu Empathie. Er erklärt, wie Empathie funktioniert, ob man sie lernen kann und warum wir nicht allen gegenüber dasselbe fühlen.
Publiziert: 18.11.2023 um 13:17 Uhr
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Aktualisiert: 19.11.2023 um 08:46 Uhr
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Peter Wilhelm erforscht, wie Menschen auf die Gefühle anderer reagieren.
Foto: Mattia Coda
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Aleksandra HiltmannRedaktorin Gesellschaft

Seit der Eskalation der Gewalt im Nahen Osten haben viele Leute Solidarität und Empathie bekundet. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?
Ich beobachte eher eine Polarisierung. Oft identifiziert man sich mit seinen eigenen Leuten, also jenen, denen man nahesteht. Und blendet aus, dass auch die andere Gruppe betroffen ist und Leid erfährt. Letztere wird abgewertet. Das sind die Bösen. So sinkt das Mitgefühl oder ist gar nicht mehr vorhanden.

Bevor wir weiter über die Aktualität sprechen, möchte ich ganz grundsätzlich fragen: Was ist eigentlich Empathie?
Wissenschaftlich gesehen ist Empathie ein schwammiger Begriff. Dennoch gibt es zwei klare Komponenten. Erstens: die emotionale Komponente. Hier geht es darum, dass wir mitschwingen mit einer Person und deren Gefühle ähnlich wie sie erleben. 

Der Empathie-Forscher

Peter Wilhelm (58) ist Dozent am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Freiburg. Er forscht zu Empathie, genauer, zu empathischer Akkuratheit. Er befasst sich unter anderem damit, wie gut Menschen die Gefühle des Gegenübers erkennen können. Während der Corona-Pandemie hat Wilhelm zudem untersucht, wie sich Leute verhalten, wenn sie sich in belastenden Situationen befinden. Peter Wilhelm wohnt in Freiburg und in Süddeutschland.

Peter Wilhelm (58) ist Dozent am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Freiburg. Er forscht zu Empathie, genauer, zu empathischer Akkuratheit. Er befasst sich unter anderem damit, wie gut Menschen die Gefühle des Gegenübers erkennen können. Während der Corona-Pandemie hat Wilhelm zudem untersucht, wie sich Leute verhalten, wenn sie sich in belastenden Situationen befinden. Peter Wilhelm wohnt in Freiburg und in Süddeutschland.

Zweitens?
Die kognitive Komponente. Wir versuchen zu verstehen, was eine andere Person fühlt oder denkt, welche Motive sie hat. Dieses Verstehen kann ich auch willentlich herbeiführen. Ich kann mich fragen: Was geht in Ihnen vor, wenn Sie mich anrufen für dieses Gespräch? Es ist ein Vorteil für mich zu wissen, was mit meinem Gegenüber los ist. So kann ich mich in einer sozialen Situation entsprechend verhalten und vielleicht meine Interessen besser durchsetzen. 

Das klingt eher berechnend als empathisch.
Kann es auch sein. Stellen Sie sich einen guten Verkäufer vor. Kennt er die Bedürfnisse seines Kunden, ist die Chance höher, dass er ihm etwas verkaufen kann. Berechnend und empathisch zu sein, schliesst sich nicht aus. Empathie spielt eine grosse Rolle im Zusammenleben von höher entwickelten Wesen, die in Gruppen leben. So können sie sich gegenseitig abstimmen, koordinieren und prosozial verhalten.

Was passiert da genau im Gehirn?
Wenn wir zum Beispiel eine Person sehen, die Schmerzen hat, werden dieselben Areale aktiviert wie dann, wenn wir den Schmerz selbst empfinden würden. Das ermöglicht das Nachfühlen mit der anderen Person.

Und das Verstehen, die kognitive Komponente?
Hier laufen verschiedene Prozesse ab, in denen wir eine Fülle von Informationen verarbeiten. Wir müssen uns in andere hineinversetzen, Motive nachvollziehen, die Situation bewerten. Und dieser Vorgang setzt auch voraus, dass wir unsere eigene Perspektive ein Stück weit zurückstellen. 

Können das alle gleich gut? Oder sind einige Leute empathischer als andere?
Bei bestimmten Personengruppen konnten Studien tatsächlich Empathie-Defizite feststellen. Für Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung ist es schwieriger, sich in andere hineinzuversetzen. Bei Personen mit einer psychopathischen Persönlichkeitsstörung ist häufig die affektive Empathie-Komponente beeinträchtigt. Sie können sich zwar in andere hineinversetzen, aber fühlen emotional nur begrenzt mit. Es gibt also Unterschiede in der Empathiefähigkeit.

Kann man Empathie auch lernen?
Ja, denn sie ist nicht nur eine Fähigkeit, sondern auch eine Haltung, die wir einnehmen können. Ich kann bewusst versuchen, mich auf die Sicht meines Gegenübers einzulassen. 

Wie genau?
Sich selbst zurücknehmen, zuhören, nachfragen, wie die andere Person zu ihrer Meinung kommt. Wenn ich offen dafür bin, kann ich ihre Perspektive besser nachvollziehen und dadurch auch ihre Gedanken und Gefühle besser verstehen. 

Das kann laut Studien auch einen ganz konkreten Nutzen haben. Empathie führe dazu, dass wir anderen eher helfen.
Ja, Empathie erleichtert Hilfeverhalten. Aber nicht zwangsläufig. Vielleicht sehe ich jemanden, der auf der Strasse lebt. Die Not dieser Person kann mir unangenehm sein und eine Stressreaktion hervorrufen, die verhindert, dass ich mich empathisch zeige und ihr etwa etwas Geld gebe. Ich bin überfordert.

In den letzten zwei Jahren haben wir auch andere Mechanismen beobachten können, die uns davon abgehalten haben, Menschen helfen zu wollen. Mit den Geflüchteten aus der Ukraine zeigten sich hierzulande viele solidarisch. Mit jenen aus Afghanistan weniger. Warum?
Es fällt uns leichter, gegenüber Personen empathisch zu sein, die uns gefühlt näherstehen. Also etwa gegenüber Familienmitgliedern, aber auch Personen, die schwächer wirken. Aus der Ukraine kamen vorwiegend Frauen und Kinder, die man eher als schutzbedürftig wahrnimmt, während aus Afghanistan vor allem junge Männer kamen. Diese beiden Gruppen wurden unterschiedlich eingeordnet. Das kann ein Grund für die unterschiedliche Hilfsbereitschaft sein. 

Aktuell kann man beobachten, wie gerade auf Social Media viel Solidarität bekundet wird, oft vor allem für die israelische oder die palästinensische Seite, nicht aber für beide gleichzeitig. Warum?
In Kriegssituationen nimmt das Schwarz-Weiss-Denken zu. Die «eigene Gruppe» muss «den anderen» geschlossen gegenübertreten. Kriegspropaganda zielt zudem darauf ab, der Gegenseite menschliche Qualitäten abzusprechen und sie als unmenschlich und böse darzustellen. Ist jemand unmenschlich und böse, dann will ich nicht mit ihm fühlen. Empathie kommt so spontan gar nicht mehr auf, und wenn, kann ich sie schnell wegdrücken – «die Unmenschen, die haben das nicht anders verdient». So wird auf beiden Seiten argumentiert, nur mit anderen Inhalten.

Und diese Entmenschlichung überträgt sich dann von den effektiven Verbrechern auf andere Personen einer Gruppe, auch wenn die nichts dafür können?
Ja, die Differenzierung wird dann nicht mehr vorgenommen. Die Aggressoren, das sind dann alle. Und alle müssen dafür den Preis zahlen. Auch wenn das kleine Kinder sind, die ums Leben kommen, die unschuldig sind und nichts zum Konflikt beigetragen haben, der jetzt gewalttätig ausgetragen wird.

Das ist paradox. Einerseits sind die Leute extrem empathisch mit der einen Seite. Tragen damit aber zu einer Polarisierung bei?
Ja, der eigenen Gruppe gegenüber ist man empathisch. Die Mitglieder der anderen Gruppe werden dagegen als Feinde gesehen, die Böses wollen und die man deshalb bekämpfen und besiegen muss.

Auf Social Media gibt es auch Leute, die selbst keinen palästinensischen, muslimischen, israelischen oder jüdischen Hintergrund haben. Dennoch zeigen sie sich – selektiv – empathisch. Warum?
Auch hier sind Identifikationsprozesse im Gang, die bereits im Vorfeld des aktuellen Konflikts ihren Anfang nahmen. Etwa aufgrund von Erfahrungen, die wir bereits mit der einen oder anderen Gruppe gemacht haben. Oder weil wir Freundinnen oder Freunde haben, mit denen wir dann eher solidarisch sind und deren Positionen wir übernehmen. Oder weil wir Stereotype haben über eine Gruppe – weil wir die noch nie gemocht haben. 

Gleichzeitig sieht man Menschen gemeinsam trauern. Seit Jahren etwa setzen sich Rami Elhanan und Bassam Aramin, ein Israeli und ein Palästinenser, gemeinsam für das Andenken ihrer Töchter ein. Die beiden Mädchen wurden im Zuge der Konflikte zwischen Israel und Palästina getötet. Was läuft hier anders?
Die Erfahrungen der beiden Väter sind in gewisser Weise parallel. Wenn ich Angehörige verliere, weil eine Rakete oder Bombe eingeschlagen ist, ist das fürchterlich. Das kann mich tiefer verbinden mit einer Person aus der anderen Gruppe, die die gleiche leidvolle Erfahrung gemacht hat, als mit jemandem, der diese Erfahrung nicht gemacht hat. Zu erkennen, dass die Menschen auf der anderen Seite ähnliches Leid erleben, hilft, die Feindschaft zu überwinden. 

Eine Studie der Universität Zürich hat gezeigt, dass Konflikte zwischen Menschen mit unterschiedlicher Nationalität oder mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund geprägt sind davon, dass man sein Gegenüber zu wenig kennt. Heisst das, man müsste präventiv dafür sorgen, dass sich Leute begegnen können?
Ja, dafür zu sorgen, dass sich Menschen begegnen können, ist eine sinnvolle Präventionsmassnahme. Der beste Weg, falsche Vorstellungen zu korrigieren und Vorurteile abzubauen, ist es, direkte Erfahrungen mit Personen der anderen Gruppe zu machen.

Ein Beispiel?
1914, während des Ersten Weltkriegs, feierten deutsche, französische und britische Soldaten zusammen Weihnachten. Deutsche Soldaten begannen, Weihnachtslieder zu singen. Franzosen und Briten, die nicht weit entfernt in ihren Schützengräben lagen, applaudierten und fingen an, ebenfalls zu singen. Die Kommandanten vereinbarten eine Waffenruhe, um die Toten zu begraben. Man feierte gemeinsam Gottesdienst. Danach spielten die Soldaten Fussball. Als Weihnachten vorüber war, sollte der Krieg fortgesetzt werden. Aber die gegnerischen Soldaten wollten sich nicht mehr bekämpfen. Als der Generalstab davon erfuhr, wurden die verantwortlichen Offiziere wegen Verbrüderung angeklagt. Die Einheiten wurden teils aufgelöst und an andere Frontabschnitte versetzt. Erst danach konnte das Morden weitergehen.

Das klingt fast zu einfach – sich einfach begegnen zu können …
Natürlich kann man auch negative Erfahrungen machen. Aber das kann mir auch mit Menschen passieren, mit denen ich den gleichen kulturellen Hintergrund teile. In der Regel entstehen viel eher positive Erfahrungen, wenn man sich direkt begegnet. 

Hier in der Schweiz sind wir aber rein physisch weit weg vom aktuellen Konflikt im Nahen Osten. Wie können wir von hier aus durch diese Emotionen und auch die Polarisierung navigieren?
Die Menschen im Nahen Osten leiden. Ein Ende des bereits viele Jahre dauernden Konflikts ist nicht in Sicht. Das ist bedrückend. Wenn die Beschäftigung mit dem Thema zu belastend wird, kann ich versuchen, Abstand zu gewinnen. Ich kann ein Stück weit regulieren, wie empathisch ich bin. Manchmal ist es gut, das zu tun.

Wirklich?
Ja. Stellen Sie sich eine Ärztin in einer Notfalloperation vor. Wenn sie zu empathisch ist, weil der Patient fürchterlich leidet, kann sie nicht mehr richtig operieren. Es gibt Situationen, in denen es strategisch sinnvoll ist, die eigene Empathie herunterzufahren. Wir sollten dennoch den Anspruch wahren, sie nicht ganz abzustellen. Wir sollten beteiligt bleiben, aber so, dass es tragbar ist.

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