SonntagsBlick: Hannan Salamat, Dina Wyler, was ist eigentlich ein konstruktiver Dialog?
Hannan Salamat: Viele denken, dass dabei das Sprechen im Vordergrund steht. Aber eigentlich geht es auch sehr viel ums Zuhören. Und nicht nur ums Lernen, sondern auch um das Verlernen von Dingen.
Dina Wyler: Man sollte sich auch seiner Intentionen bewusst sein: Beginnt man eine Diskussion, um zu gewinnen? Oder ist man bereit, wirklich zuzuhören, den eigenen Horizont zu erweitern und die Perspektive zu wechseln?
Wie beurteilen Sie die aktuelle Debatte über den Nahostkonflikt?
Wyler: Wir beobachten, wie sich die Tonlage immer weiter verschärft und sich die Fronten verhärten. Es wird nicht zugehört, sondern es geht mehr darum, die eigenen Argumente einzubringen. So redet man aneinander vorbei. Dazu passt die Restaurant-Metapher: In einem lauten Restaurant spricht man irgendwann immer lauter, um gehört zu werden. Am Schluss schreien sich alle an, statt sich kollektiv darauf zu einigen, etwas leiser zu sein.
Leise Töne hört man momentan eher selten – vor allem in den sozialen Medien.
Wyler: Leider. Aus Feedbacks zu unserer Arbeit wissen wir, dass viele Menschen dankbar sind für diese leisen Töne, weil sie sich so gehört und gesehen fühlen. Die Sichtbarkeit der nuancierten Stimmen ist aktuell wichtiger denn je.
Wieso ist es so schwer, über den Nahostkonflikt zu sprechen?
Salamat: Es ist menschlich, komplexe Themen zu vereinfachen, um eine gewisse Sicherheit zu gewinnen. Wir neigen dazu, in Kategorien zu denken – was dazu führt, dass die tatsächliche Komplexität von Themen verloren geht. Der Nahostkonflikt ist ein gutes Beispiel dafür, wie Menschen dazu neigen, klare Meinungen zu entwickeln. Paradoxerweise erschwert diese vermeintliche Klarheit jedoch die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen, da sie sich nicht einfach auf klare Schlüsse oder feste Positionen herunterbrechen lassen.
Darf man bei diesem vielschichtigen Konflikt überhaupt ohne Vorwissen mitreden?
Wyler: Man darf alles, sollte sich aber bewusst sein, dass die eigene Perspektive immer begrenzt ist. Und gerade ein so schwieriges Thema sollte man mit einer gewissen Demut angehen. Für viele Menschen ist das gerade eine unglaublich schmerzhafte Zeit. Gerade für Betroffene ist es schwierig, darüber zu sprechen. Als nicht betroffene Person sollte man sich deshalb umso mehr dafür einsetzen, einen besonnenen Dialog zu führen und den Konflikt nicht weiter anzufeuern.
Der einen Seite wird Antisemitismus vorgeworfen, der anderen, das Leid im Gazastreifen zu relativieren. Wie beginnt man bei derart verhärteten Fronten eine sinnvolle Debatte?
Wyler: Am besten nicht in den sozialen Medien, dort ist es deutlich schwieriger. Ich finde es ausserordentlich wichtig, dass wir einander unsere Erfahrungen nicht absprechen. Wir müssen erst einmal ein Fundament schaffen, indem wir den Schmerz des oder der anderen aufrichtig anerkennen. Solange das nicht der Fall ist, können wir nicht konstruktiv über den Konflikt sprechen.
Viele posten momentan Statements zum Nahostkonflikt auf Instagram oder X. Was raten Sie Menschen, die gerne ein Zeichen setzen wollen?
Wyler: Kurze Kachel-Statements in den sozialen Medien dienen aktuell niemandem. Ich habe das Gefühl, viele Menschen posten so etwas, weil sie sich ohnmächtig fühlen und etwas tun wollen. Aber je nachdem, was man postet oder welche Begriffe man verwendet, kann das zu noch mehr Polarisierung führen.
Salamat: Man sollte sich vielleicht auch fragen, welche anderen Formen der Solidarität möglich sind. Zum Beispiel kann man betroffene Bekannte anrufen und sie fragen, wie es ihnen geht. Oder wenn man – online und offline – antisemitischen oder antimuslimischen Hass mitbekommt, dem Absender Paroli bieten.
Dina Wyler, Sie sprechen häufig davon, dass das «Ja, aber» zum «Ja, und» werden muss. Was meinen Sie damit?
Wyler: Es geht darum, mit welcher Intention man ein Gespräch führt. «Ja, aber» heisst, dass man jemanden von der eigenen Meinung überzeugen will. Der Nahostkonflikt ist aber so komplex, man könnte stundenlang diskutieren und jedes Argument mit «Ja, aber» erwidern. Wenn man eine konstruktive Diskussion haben will, plädiere ich für das «Ja, und». Damit spricht man einander keine Erfahrungen ab, sondern fügt dem Mosaik immer mehr Teile hinzu. Dadurch wird die Sache zwar immer schwieriger, aber der Nahostkonflikt ist nun mal schwierig. Man muss anerkennen, dass gewisse Dinge gleichzeitig wahr sein können. Das geht nur mit einem «Ja, und».
Weshalb fällt es vielen so schwer, diese Gleichzeitigkeit auszuhalten?
Salamat: Wie gesagt neigen Menschen dazu, komplexe Informationen und Konzepte zu vereinfachen, um sie besser zu verstehen. Dies führt oft dazu, dass sie nach klaren und eindeutigen Antworten suchen und sich vor Mehrdeutigkeiten fürchten. Mehrdeutigkeiten können Unsicherheit und Angst auslösen, da sie es schwierig machen, klare Schlüsse zu ziehen oder feste Positionen einzunehmen. Menschen fühlen sich in der Regel wohler, wenn sie in der Lage sind, klare Entscheidungen zu treffen.
Wie kann man Mitgefühl mit beiden Seiten ausdrücken, ohne sich dem Vorwurf der Relativierung auszusetzen?
Wyler: Das ist gar nicht so schwierig. Angst, Wut, Schmerz, Verlust – diese Gefühle sind gerade auf beiden Seiten da. Diese kann man ohne geopolitischen Kontext anerkennen. Man muss kein Nahostexperte sein, um Mitgefühl zu zeigen.
Darf man zu diesem Konflikt auch schweigen?
Salamat: Schweigen ist nicht dasselbe wie Gleichgültigkeit oder Ignoranz. Es kann zum Beispiel ein Zeichen von Respekt vor der Komplexität eines Konflikts sein. Schweigen sollte nicht sanktioniert werden.
Wyler: Schweigen kann auch Überforderung bedeuten. Und das ist in dieser Situation ein absolut legitimes Gefühl – ich glaube, wir sind alle überfordert. Problematisch finde ich Schweigen nur, wenn man Zeuge von antimuslimischem Rassismus oder Antisemitismus wird. Wir stehen alle in der Verantwortung, diesen zu benennen und zu verurteilen.