Dalal al-Nadschi hat die «Nakba» als Kind miterlebt. Die Katastrophe, wie Palästinenser die Flucht und Vertreibung Hunderttausender Menschen während des Kriegs im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 nennen.
Die heute 86-Jährige aus Dair al-Balah im Gazastreifen erzählt, sie sei damals mit ihren Eltern und ihren beiden Geschwistern von ihrem Geburtsort Dschulis rund 30 Kilometer nordöstlich von Gaza bis in den heutigen Gazastreifen zu Fuss gelaufen. In Dschulis blieben fast nur Ruinen zurück, heute liegt der Ort im israelischen Kernland. So nah und doch so fern.
Seit der Flucht in ihrer Kindheit hat die Mutter von fünf Kindern noch viele blutige Kriege in der Region miterlebt. Der jetzige sei jedoch «der schlimmste von allen», sagt die alte Frau. Sie hat Angst, dass Israel die Palästinenser im umkämpften Gazastreifen zwingen könnte, nach Ägypten zu fliehen - Angst vor einer zweiten «Nakba».
Flucht von Zivilisten mit weissen Fahnen weckt Erinnerungen
Ihre jüngere Schwester Naema al-Nadschi hat in ihrem Haus in Dair al-Balah viele Binnenflüchtlinge aus dem Norden des Gazastreifens aufgenommen. Dort sind die Kämpfe und israelischen Angriffe am heftigsten.
Die Videoaufnahmen von Tausenden von Zivilisten mit weissen Fahnen, die seit Tagen durch einen von Israel deklarierten humanitären Korridor aus dem Norden in den Süden laufen, wecken bei vielen Assoziationen mit der «Nakba». «Israel will uns immer wieder vertreiben und die palästinensische Sache für immer beenden», glaubt die 72-jährige Al-Nadschi.
Israel betont immer wieder, die Evakuierung der mehr als einer Million Einwohner des nördlichen Teils des Küstenstreifens sei zu ihrer eigenen Sicherheit. Offiziell sagt Israel auch, es wolle den Gazastreifen nicht dauerhaft wiederbesetzen, sondern nur die Herrschaft der islamistischen Hamas beenden. Diese könne nach dem blutigen Massaker am 7. Oktober von Terroristen der Hamas und anderen an mehr als 1400 Israelis nicht mehr geduldet werden.
Radikale Äusserungen befeuern Ängste
Doch radikale Äusserungen israelischer Politiker heizen die Ängste vieler Einwohner von Gaza weiter an. Ariel Kallner, ein Abgeordneter der rechtskonservativen Likud-Partei, forderte etwa am Tag des Massakers in einem X-Post: «Eine Nakba für den Feind, sofort!» Eine «neue Nakba, die jene von 48 noch in den Schatten stellt».
Israelische Bodentruppen hissten am Strand von Gaza eine blau-weisse israelische Flagge und sangen die israelische Nationalhymne. Israelische Siedlerführer äussern bereits ihre Bestrebungen, die während des Abzugs der israelischen Armee aus dem Gazastreifen 2005 geräumten Siedlungen wieder zu errichten.
Auch angebliche Ideen, Flüchtlinge aus dem Gazastreifen vorübergehend im Nord-Sinai in Ägypten unterzubringen, beleben bei Palästinensern ein Trauma neu, das Generationen überspannt.
«Neue Nakba mit anderem Beigeschmack»
Während der «Nakba» 1948 flüchteten rund 700'000 Menschen aus dem historischen Palästina, das zuvor unter britischem Mandat stand. Hunderttausende weitere folgten im Sechstagekrieg 1967, heute als «Naksa» (Rückschlag) bezeichnet.
In Strömen ziehen jetzt palästinensische Familien den «Korridor» für Evakuierungen entlang, den Israels Armee in Gaza für Zivilisten eröffnet hat - nach UN-Angaben allein seit Sonntag etwa 72'000 Menschen. Israel setze seine «Zwangsvertreibung» fort, schrieb etwa die staatliche ägyptische Nachrichtenseite «Al-Ahram».
Es sei eine «neue Nakba mit anderem Beigeschmack, live im Fernsehen», hiess es in einem Meinungsbeitrag in der jordanischen Zeitung «Al-Ghad».
Arabische Länder nicht offen für weitere Flüchtlinge
Für Ägypten, das den einzigen nicht-israelischen Grenzübergang nach Gaza kontrolliert, ist das Flüchtlings-Szenario mit einer ganzen Reihe von Sorgen verknüpft. Die Sicherheitslage im Sinai ist nach Kämpfen gegen Extremisten weiter angespannt. Staatschef Abdel Fattah al-Sisi dürfte – kurz vor einer Präsidentenwahl in Ägypten – auch kaum als Unterstützer dastehen wollen, wenn die «palästinensischen Brüder» erneut ihre Heimat verlassen müssen.
Der Sinai könne für Gruppen wie Hamas oder Islamischer Dschihad ausserdem zur «Basis für Terroreinsätze gegen Israel» werden, sagte Al-Sisi. Auch Angriffe Israels im Sinai seien als Vergeltung dann nicht ausgeschlossen.
Weil unklar ist, wer Gaza kontrollieren wird, bleibt für Flüchtlinge die ewige Angst, sie könnten nach Kriegsende nicht mehr zurück. In Jordanien, dem Libanon und Syrien, wo viele der fast sechs Millionen registrierten palästinensischen Flüchtlinge leben, gibt es weder politischen Willen noch Kapazitäten für die Aufnahme weiterer.
Schicksal von Millionen Flüchtlingen erscheint unlösbar
In der Bevölkerung der arabischen Welt gibt es zwar weiter grossen Rückhalt für die Palästinenser, wie Massenproteste zeigten, aber auch eine wechselhafte Geschichte. In Jordanien brachten palästinensische Milizen 1970 im sogenannten Schwarzen September die Souveränität des Staates ins Wanken, ehe die Armee sie gewaltsam vertrieb.
Im Libanon waren Kämpfer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) ein Katalysator im Bürgerkrieg (1975-1990). Aus Kuwait wurden 1991 Hunderttausende Palästinenser vertrieben - Auslöser war, dass die PLO die irakische Besatzung in Kuwait unterstützt hatte.
Der Status der Millionen, in Nachbarländer verstreuten Palästinenser ist wohl die am längsten ungeklärte Flüchtlingsfrage der modernen Geschichte. Insgesamt bilden sie wohl die grösste Gemeinde derjenigen Menschen, die als staatenlos gelten oder deren Staatsangehörigkeit ungeklärt ist.
Israel lehnt Rückkehr ab
Israel wirft dem UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge UNRWA und anderen Organisationen vor, das Problem künstlich zu verewigen - indem der Flüchtlingsstatus praktisch «vererbt» wird. Als die Agentur 1950 ihre Arbeit aufnahm, kümmerte sie sich eigenen Angaben zufolge um 750 000 Flüchtlinge.
Heute können 5,9 Millionen Palästinenser UNRWA-Hilfe in Anspruch nehmen. Israel lehnt eine von den Palästinensern geforderte Rückkehr in ihre alte Heimat ab, weil damit der jüdische Staat zerstört würde. Der Streit um eine Rückkehr bleibt eine der schwierigsten Fragen im Konflikt beider Völker.
«Wir wollen in Sicherheit und Frieden leben»
Eine politische Lösung, nach der sich viele in der Region sehnen, erscheint heute ferner denn. Die Schwestern aus Dir el Balah sehen die Verantwortung für die katastrophale Situation aber nicht nur bei Israel, sondern auch bei der Hamas, die seit 2007 die Alleinherrschaft im Gazastreifen hatten.
«Wir wollen in Sicherheit und Frieden leben, aber weder Israel noch die Hamas wollen eine Lösung finden, die uns ein normales Leben ermöglicht», klagt die ältere Schwester. (SDA)