Milo Rau gilt als umstrittenster Künstler des Landes
«Die Schweiz ändert sich, und zwar zum Besseren»

Er wird auf der ganzen Welt gelobt, in seiner Heimat bläst ihm seit langem ein steifer Wind entgegen. Jetzt veröffentlicht Milo Rau ein neues Buch. Im Gespräch gibt er sich gegenüber der Schweiz versöhnlich und kritisiert Übersensibilität in der Kultur.
Publiziert: 18.09.2023 um 00:22 Uhr
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Milo Rau hat ein kompliziertes Verhältnis zur Schweiz.
Foto: OSTKREUZ - Agentur der Fotografen GmbH
Benno Tuchschmid
Benno TuchschmidCo-Ressortleiter Gesellschaft

Sie haben in der Primarschule in einer Schülerzeitung einen Dreiteiler über Atomspaltung geschrieben. Hatten Sie immer schon einen Hang zu den ganz grossen Themen?
Milo Rau: Sie meinen wohl zu den ganz kleinen Themen. Es gibt nichts Kleineres als Atome. 

Sie wissen schon, wie ich's meine. Ihr aktueller Essay will nicht weniger als die Bestandesaufnahme unserer Gegenwart sein. Wie ist unsere Gegenwart?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich alle gegenseitig überwachen. Es herrschen Moralismus und Minimaldissens, Shitstorm folgt auf Shitstorm. In dieser Kritik-Orgie sind wir paralysiert. Und vor allem geht dabei das grosse Gemeinsame vergessen. 

Was ist denn das grosse Gemeinsame?
Als Menschheit könnte unser Projekt ja zum Beispiel heissen: Vergangenes Unrecht aufarbeiten. Aktuelle Ungerechtigkeit abbauen. Zusammen die nahende Apokalypse verhindern.

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«Gerade in der Kulturbranche interessiert man sich heute fast nur noch dafür, dass eine kleine Elite sich safe und glücklich fühlt.»
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In Ihrem Buch schreiben Sie, in unserer Gesellschaft gelte alles als kritisierbar, aber nichts als veränderbar. Wie meinen Sie das?
Gerade in der Kulturbranche interessiert man sich heute fast nur noch dafür, dass eine kleine Elite sich safe und glücklich fühlt. Aber wer uns dieses Glück ermöglicht, nämlich Länder wie der Kongo und die kommenden Generationen – das interessiert niemanden.

Eine überraschende Aussage für einen, der als Botschafter des Wokeismus beschimpft wird.
Ach, beschimpft werde ich von allen Seiten. Den einen bin ich zu extrem, den anderen zu inkonsequent. Kunst machen bedeutet, sich angreifbar zu machen.

Mögen Sie eigentlich die Schweiz?
Wenn ich mich der Ostschweiz nähere und die Gülle in der kühlen Luft rieche, dann fühle ich mich total zu Hause und bin glücklich. Je länger ich weg bin, desto intensiver wird das Heimatempfinden. Ich träume davon, wieder in der Nähe des Alpsteins zu leben. Aber natürlich wollte ich mit 18 vor allem weg nach Zürich, Paris und Berlin. 

Geliebt und gehasst

Der Regisseur Milo Rau (46) ist in Bern geboren und in St. Gallen aufgewachsen. Seit 2002 veröffentlichte er über 50 Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen. Zu den berühmtesten gehören «Die Moskauer Prozesse» (2013), «Das Kongo-Tribunal» (2017) und «Das Neue Evangelium & Die Revolte der Würde» (2021). Vor kurzem erschien sein Essay «Die Rückeroberung der Zukunft». Die «New York Times» bezeichnet Rau als «kontroversesten», «Die Zeit» als «einflussreichsten» Künstler unserer Tage. Rau wohnt mit seiner Familie in Köln (D).

Keystone-SDA

Der Regisseur Milo Rau (46) ist in Bern geboren und in St. Gallen aufgewachsen. Seit 2002 veröffentlichte er über 50 Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen. Zu den berühmtesten gehören «Die Moskauer Prozesse» (2013), «Das Kongo-Tribunal» (2017) und «Das Neue Evangelium & Die Revolte der Würde» (2021). Vor kurzem erschien sein Essay «Die Rückeroberung der Zukunft». Die «New York Times» bezeichnet Rau als «kontroversesten», «Die Zeit» als «einflussreichsten» Künstler unserer Tage. Rau wohnt mit seiner Familie in Köln (D).

Aber in Ihrer Arbeit sparen Sie nicht mit fundamentaler Kritik an der Schweiz!
Es gibt die reale Schweiz, die Schweiz der Menschen, die ich liebe. Das Wohlstandskonzept Schweiz hingegen basiert auf hoher Wirtschaftskriminalität und einer völlig verlogenen Neutralität. Aber es ist ja so, dass sich das alles langsam wandelt, und zwar zum Besseren. Zum Beispiel wurde gerade die Sammlung Bührle geschlossen.

In der Schweiz scheinen Veränderungen immer etwas mehr Zeit zu brauchen.
Der Föderalismus, der Wohlfahrtsstaat, die direkte Demokratie, der Frieden: Bei einer solch beeindruckenden Erfolgsgeschichte neigt man halt schnell dazu, schwarze Flecken als Nebenschauplätze abzutun. Und demokratische Möglichkeiten gar nicht erst zu nutzen, weil es uns ja eh gut geht.

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«Kritik ist deshalb schmerzhaft, weil man ja selber nie zufrieden ist und denkt: Verdammt, was hätten wir noch besser machen können?»
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Okay, Sie mögen die Schweiz. Die Frage ist: Mag die Schweiz Sie? Gerade warf Ihnen die «NZZ am Sonntag» vor, Sie würden mit Ihren Inszenierungen Betroffene ausnützen, wenn Sie in Mossul ein Theater inszenieren oder einen Jesus-Film inszenieren, mit einem Aktivisten, der sich für Migranten einsetzt.
Das hat Tradition. Ich kann mich noch heute an die «NZZ»-Kritik an einem meiner allerersten Offtheaterstücke erinnern. Da war ich Mitte zwanzig, und die Kritik war so vernichtend, dass ich fast mit dem Theater aufgehört hätte. Heute bin ich entspannter: Wir sind nicht perfekt, denke ich, aber wir geben unser Bestes. In Mossul im Irak zum Beispiel, der völlig zerstörten ehemaligen Hauptstadt des IS, konnten wir eine kleine Filmschule gründen. Das war ein fünfjähriger Kampf, wir haben auch Mädchen ausgebildet. Kritik ist deshalb schmerzhaft, weil man ja selber nie zufrieden ist und denkt: Verdammt, was hätten wir noch besser machen können? Aber ich glaube, die Deutschschweiz war immer ein hartes Pflaster für mich.

Sie arbeiteten hier fast nie an einem Theater.
Ein Grund, wieso ich die Möglichkeit nicht packte, Intendant vom Schauspielhaus Zürich zu werden, war die Überlegung: Kann ich das aushalten, diese Nähe? Aber ich kann mich nicht beklagen: Ich schau ja selber auch kritischer auf die Schweiz als auf Deutschland oder Belgien.

Ihr letztes grosses Projekt in der Schweiz war «Lasst Schepenese heimkehren!», wo Sie sich für die Rückführung einer in der Stiftsbibliothek St. Gallen ausgestellten Mumie einsetzen. Ist es richtig, ein Kulturgut in eine Diktatur zurückzuführen?
Das Diktatur-Argument ist, wie wenn ein Autodieb sagt: Okay, ich hab dir dein Auto geklaut, ich gebe es dir aber erst zurück, wenn du eine perfekte Garage gebaut hast. Globale Projekte sind voller Widersprüche, und die müssen wir aushalten, sonst ändert sich nichts. Deshalb arbeiten wir mit Partnern aus der ägyptischen Zivilgesellschaft zusammen. Naive Aufklärer denken ja, dass es den guten Süden und den bösen Norden gibt. Aber es gibt leider eine korrupte globale Elite, die überall ist.

Kehrt die Mumie denn nun nach Ägypten zurück?
Offenbar hat die St. Galler Stiftsbibliothek undercover Gespräche mit der ägyptischen Botschaft geführt. Und jetzt behaupten sie, der ägyptische Staat habe kein Interesse an Schepenese – was mich bei einem Militärregime auch gewundert hätte (lacht). Aber die ägyptische Zivilgesellschaft will die Mumie gern zurück: Monica Hanna, Ägyptologin an der Universität von Assuan, und ihr Komitee bleiben dran. Ich finde übrigens, die Stiftsbibliothek hat die Diskussion sehr souverän angenommen. Wie gesagt: Die Schweiz ändert sich, und zwar zum Besseren.

Sie reden in Ihren Projekten mit Putin-Ideologen und Kriegsverbrechern. Wieso?
Das sind extreme Beispiele. Aber wir müssen immer voraussetzen, dass unsere Gegner recht haben. Wir inszenierten in Russland die «Moskauer Prozesse», in denen wir das Justizverfahren gegen die Band Pussy Riot aufrollten. Ich war überzeugt, dass die Urteile gegen die Band rein politisch motiviert waren – und das Argument, die Gruppe habe mit ihrer Performance Gläubige beleidigt, sei bloss Propaganda des Putin-Regimes. Bis ich auf intelligente Menschen stiess, die schlicht anderer Meinung waren als ich, das begründen konnten und weder Putin noch Pussy Riot gut fanden. 

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«Das Problem ist, dass sich im Moment alle von allen abgrenzen, wegen der kleinsten Meinungsdifferenz»
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Das entspricht nicht dem Zeitgeist. Der besagt eher: Wer nicht unserer Meinung ist, wird gecancelt.
Für mich ist klar: Gegen Faschisten muss man sich konsequent abgrenzen. Aber das Problem ist, dass sich im Moment alle von allen abgrenzen, wegen der kleinsten Meinungsdifferenz. So lange, bis jeder allein dasteht. Das freut dann natürlich die Faschisten.

Interessieren Sie eigentlich Zuschauerzahlen?
Wer sich im Theater für Zuschauerzahlen interessiert, muss zum Fernsehen gehen. Oder Blick-Journalist werden. Dieses Interview werden mehr Menschen lesen als in einem Jahr in mein Theater kommen. Selbst wenn alle Theater immer sagen, wie toll sie ausgelastet sind: Wir machen Präsenzkunst in Sälen mit maximal 1000 Plätzen, da geht es nie um die grossen Massen.

Versuchen Sie deshalb übers Theater hinaus zu wirken?
Ja. Nehmen Sie den Jesus-Film in Italien. Als ein Resultat haben wir es geschafft, in Europa 150 Supermärkte mit fair produzierten Tomaten zu beliefern, bei denen auch die Migranten auf den Feldern korrekt entlöhnt werden. Hätten wir keinen Film dazu gemacht, hätten wir nicht Biomärkte in Nordeuropa mit den italienischen Aktivistinnen zusammengebracht: Das wäre in dem Ausmass nicht passiert. Eine kleine, aber für uns eben wichtige Sache.

Haben Sie manchmal nicht Angst, dass Sie die Beruhigungspille fürs linke Bildungsbürgertum sind?
Ein Freund von mir sagte mal: Kunst ist die Melancholie der gescheiterten Revolte. Als engagierter Künstler ist man immer auch ein Feigenblatt. Man ist, wie man es auch dreht, Teil dessen, was man kritisiert. Auf der anderen Seite kann Kunst wirklich etwas bewirken. Der Vietnamkrieg wurde unter anderem wegen ein paar Fotografien beendet.

Das ist alles so brutal ernst. Verbringen Sie Ihre Zeit eigentlich nur mit schweren Grundsatzfragen oder tun Sie auch mal was komplett Sinnloses wie Jassen?
Fürs Jassen bin ich zu ungeduldig. Aber machen Sie sich keine Sorgen: Ich hänge fast jeden Abend mit meiner Familie und Freunden ab, trinke Primitivo und bin dankbar und fröhlich, dass ich auf dieser Welt sein darf.

«Antigone in the Amazon», Milo Rau, 22. September und 23. September 2023 in der Kaserne Basel. 

«Die Rückeroberung der Zukunft. Ein Essay», Milo Rau, Rohwolt. Ab sofort im Buchhandel.

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