Was ist Ihre erste Erinnerung an Europa?
Der Geruch von Gauloises-Zigaretten. Als 14-Jähriger lebte ich 1969 als Austauschschüler in Westfrankreich bei La Rochelle. Da war alles anders als bei uns in England, auch der Kaffee. Der war viel stärker.
An was erinnern Sie sich noch?
Ich sah mit meiner Gastfamilie die Mondlandung und übersetzte für sie. «Armstrong, il dit: C’est un petit pas pour moi …» (lacht).
Frankreich war damals für Sie wie ein anderer Planet?
Junge Europäer haben keine Ahnung, wie weit auseinander europäische Länder noch bis in die 70er-Jahre lagen: Passkontrollen, Geldwechsel, Devisenkontrolle. Alles war kompliziert. Und der Transport erst. Nach Frankreich nahm ich den Zug und dann das Schiff. Es war eine sehr lange Reise.
Ich gehöre zur Generation, die plötzlich die Möglichkeit hatte, übers Wochenende nach Berlin oder London fliegen zu können. Wie hat das Europa verändert?
Tiefgreifend. Für Jahrhunderte verliessen Europäer ihr Land oder ihre Region nicht –ausser als Soldaten oder auf der Flucht. Und das blieb so bis Mitte des 20. Jahrhunderts. 1973 ist die Zahl der Touristen, die Spanien jährlich besuchen, erstmals so hoch wie die spanische Bevölkerung. Plötzlich erlebten gewöhnliche Menschen Europa. Das hat den Kontinent enger rücken lassen. Heute ist die Bewegungsfreiheit eine Selbstverständlichkeit.
Was ist für Sie Europa?
Einfache Fragen erfordern komplizierte Antworten: Europa ist Geschichte. Europa ist eine geografische Region ohne klare Grenzen, eine Ansammlung politischer Institutionen – und nicht zuletzt ist Europa ein Ideal. Aber in allererster Linie ist es eine gelebte Erfahrung.
In der Schweiz ist Europa für viele in erster Linie Synonym für die EU, und die mag fast niemand.
Nicht nur in der Schweiz. Gemäss Umfragen sagen derzeit 27 Prozent aller EU-Bürger, ihr Land wäre ausserhalb der EU besser aufgehoben. Ich glaube, dass viele Menschen das Gefühl haben, der EU gehe es immer um noch mehr Europa und noch mehr Europa. Als wolle man das römische Imperium wieder aufbauen mit Brüssel als Rom. Wir sollten akzeptieren, dass Europa eine einzigartige Form von politischer Gemeinschaft ist – wo wir die Balance zwischen Einheit und Vielfalt finden müssen.
Als Sie in den 80er-Jahren im kommunistischen Polen waren, was bedeutete da Europa für einen ganz normalen Bürger?
Alle guten Dinge der Welt! Friede, Fortschritt, Demokratie, menschliche Würde, Reisefreiheit, Menschenrechte. Übrigens war ich gerade im Februar in Kiew: Dort bedeutet Europa heute genau dasselbe.
Europa gleich Freiheit: War das auch die Überzeugung von Viktor Orban, als Sie ihm zum ersten Mal begegneten?
Wer weiss, was seine wahren Überzeugungen waren. Ich traf ihn 1988 als jungen Oppositionsführer und Studenten, dessen Ausbildung übrigens durch Stiftungen von George Soros finanziert war. Er studierte hier bei uns in Oxford – und ich erinnere mich noch genau daran, wie er in meinem Büro stand und erzählte, wie er in Ungarn eine liberale Demokratie aufbauen werde. Für uns war er einer der talentiertesten Politiker seiner Generation. Und wissen Sie was?
Sagen Sie es.
Wir hatten recht. Leider braucht er seine ausserordentlichen Fähigkeiten nicht, um die Demokratie auszubauen, sondern um sie zu zerstören. Und dafür missbraucht er auch noch Milliarden von EU-Mitteln.
Wie meinen Sie das?
Ein Beispiel: Um zu verhindern, dass Orban die 18 Milliarden Euro Hilfe an die Ukraine blockiert, musste die Union 6 Milliarden an Ungarn zahlen. Orban legt die Unfähigkeit der EU offen, wenn es um die Verteidigung der Demokratie in ihren eigenen Mitgliedstaaten geht. Für mich ist das einer der grössten Fehler in der Geschichte der EU.
Aber wieso hat Orban überhaupt Erfolg? Vielleicht, weil der Wechsel vom Kommunismus in den Kapitalismus ganz viele Verlierer produzierte?
Der Wechsel war brutal, aber auch effektiv. Schauen Sie: Polen hat sein BIP in den letzten 30 Jahren um 800 Prozent gesteigert. Viele Millionen Menschen profitierten enorm. Der grosse Fehler war, zu übersehen, wie hoch der soziale Preis war, den diese Gesellschaften zahlten. Wie viel Schmerz der Wechsel verursachte. Wie viele Menschen sich ignoriert, nicht respektiert und benachteiligt fühlten. Wir hätten mehr tun müssen, und zwar bevor die Populisten wie Orban kamen und ihnen sagten: Ich helfe euch!
Wie gross ist denn die Gefahr, dass Viktor Orban mit seinem Modell der illiberalen Demokratie zu einem Vorbild wird?
Ich muss Sie korrigieren, Ungarn ist keine Demokratie mehr, sondern ein autoritäres System. Der Einfluss von Orban ist enorm. Für die amerikanische Rechte sind Ungarn und Viktor Orban ein Vorbild. Aber ich denke, man muss die Sache grösser anschauen. Die Finanzkrise 2008 war ein Wendepunkt.
Sein neues Buch «Europa. Eine persönliche Geschichte» ist das Lebenswerk von Timothy Garton Ash (67): Seit über 50 Jahren bereist und erforscht er Europa. Nun zieht er Bilanz und zeichnet das Bild eines Kontinents am Scheideweg. Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University, daneben schreibt er regelmässig für wichtige internationale Zeitungen und Zeitschriften. Er gilt als einer der einflussreichsten Historiker der Welt. Er ist Autor zahlreicher internationaler Bestseller. Zu Ihnen gehören «Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt (2016)» und «Ein Jahrhundert wird abgewählt». Garton Ash lebt in Oxford.
Sein neues Buch «Europa. Eine persönliche Geschichte» ist das Lebenswerk von Timothy Garton Ash (67): Seit über 50 Jahren bereist und erforscht er Europa. Nun zieht er Bilanz und zeichnet das Bild eines Kontinents am Scheideweg. Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University, daneben schreibt er regelmässig für wichtige internationale Zeitungen und Zeitschriften. Er gilt als einer der einflussreichsten Historiker der Welt. Er ist Autor zahlreicher internationaler Bestseller. Zu Ihnen gehören «Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt (2016)» und «Ein Jahrhundert wird abgewählt». Garton Ash lebt in Oxford.
Wieso Wendepunkt?
Weil westliche Demokratien hart getroffen wurden – und autoritäre Länder wie China relativ gut durchkamen. Für Orban, aber auch für Länder in Afrika und Lateinamerika wurde China zu einem attraktiven Modell. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatten die liberalen Demokratien vermeintlich keine Gegner mehr. Jetzt haben sie wieder einen. Den autoritären Kapitalismus.
Die EU habe für Frieden gesorgt, hiess es lange. Jetzt herrscht Krieg. Ist die EU gescheitert?
Meine Argumente für Europa basierten nie auf naivem Optimismus, sondern auf konstruktivem Pessimismus. Ich hielt Europa immer für fähig, jederzeit in seine alten Verhaltensmuster zu fallen, die so viel Krieg und Leid verursachten. Wir sagten «nie wieder» nach 1945, es passierte wieder in Ex-Jugoslawien. Danach sagten wir nochmals «nie wieder». Jetzt passiert es in der Ukraine. Aber ich halte das nicht nur für ein Scheitern der EU.
Sondern?
Für ein kolossales Scheitern des ganzen Westens. 2014 riss Russland die Krim an sich und besetzte Teile der Ostukraine. Wir hätten aus historischen Gründen erkennen müssen, was da passierte: Das Russische Reich begann zurückzuschlagen. Ich begegnete Wladimir Putin 1994, er sprach damals schon von der Krim.
2008 wollte George W. Bush, dass die Ukraine und Georgien Nato-Mitglieder werden. Hätte das den Krieg verhindert?
Auf «Was wäre»-Fragen haben Historiker keine Antworten. Ich kann Ihnen aber sagen, dass die Kompromiss-Entscheidung von 2008 die schlechteste aller Möglichkeiten war. Die Nato eröffnete der Ukraine schwammig eine Mitgliedschaft in sehr, sehr ferner Zukunft, ohne aber konkrete Schritte zu unternehmen. Das verstärkte bei Putin das Gefühl der Gefahr durch den Westen, ohne dass es die Ukraine auch nur einen Deut sicherer machte.
Wie würden Sie denn die europäische Antwort auf den Kriegsausbruch 2022 beschreiben?
Als eindrücklich. Es gibt ja die Krisen-Theorie, die besagt, dass in Europa Krisen für mehr Einheit sorgen. Das stimmt manchmal, manchmal aber auch nicht. Die Flüchtlingskrise hat die EU auseinandergetrieben – und nicht vereint. Aber hier passiert gerade das Gegenteil. Die EU vergibt zum ersten Mal gemeinsam direkte Militärhilfe –das ist ein enormer Schritt vorwärts.
Da sind viele anderer Meinung. Der Schweizer Bundespräsident Alain Berset beschreibt die Stimmung in Europa als Kriegsrausch.
Da ist er ja nicht der Einzige. Wir hingen nach dem Fall der Mauer in Europa 30 Jahre der Illusion nach, dass nun automatisch alles Richtung ewiger Friede läuft. Von da ist es ein weiter Weg zur Realität von heute – und es überrascht mich nicht, dass es bei euch, aber auch gerade in Deutschland, kritische Stimmen gibt. Nur sollte man sie nicht überschätzen. Wenn Sie sich die Umfrage anschauen, die meine Forschungsgruppe in Oxford Anfang 2023 zusammen mit dem Europäischen Rat für Auswärtige Beziehungen durchführte, dann ist die Unterstützung für die Ukraine heute in Europa grösser als noch vor einem Jahr. Ich glaube nicht mehr, dass die grosse Gefahr für die Ukraine Kriegsmüdigkeit in Europa ist.
Sondern?
Eine Wiederwahl von Donald Trump.
Was würde das ändern?
Der Mann ist fast zu allem fähig. Wir dürfen nicht vergessen: Europa tut sehr viel für die Ukraine, aber es sind in erster Linie die USA, die dafür gesorgt haben, dass der ukrainische Widerstand Erfolg hatte.
Der französische Präsident Emmanuel Macron hat gerade dafür plädiert, dass Europa seine eigene Politik in Bezug auf die chinesische Expansionspolitik findet.
Natürlich soll Europa eine eigenständige Politik haben. Aber nicht die eines gleich grossen Abstands zu den USA und China. Nicht die von Macron angedeutete Gleichgültigkeit gegenüber der kleinen chinesischen Demokratie Taiwan.
Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz im Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine?
Die Schweiz ist eine der grossartigsten Demokratien Europas – und die älteste dazu. Wenn also die Demokratie einer anderen europäischen Nation derart brutal angegriffen wird, sollte es keinen Zweifel geben, auf welcher Seite die Schweiz steht. Und wenn ich es ganz klar sagen darf: Auch die Schweiz sollte es Deutschland erlauben, Munition aus ihrer Produktion auszuführen.
Aber das darf sie nicht, aus neutralitätsrechtlichen Gründen.
Es gibt immer Wege. Ich denke, die Schweiz muss darüber nachdenken, wie ihre Neutralität im 21. Jahrhundert aussieht. Schauen Sie Finnland oder Schweden an. Ehemals neutrale Länder, die nun der Nato beitreten oder näher rücken.
Kaum jemand bei uns hält die Schweizer Neutralität für vergleichbar mit jener Finnlands oder Schwedens. Christoph Blocher sagte im Blick vor kurzem, die Schweiz habe dank der Neutralität zwei Weltkriege überstanden.
(Lächelt) Vielleicht hat die Schweiz tatsächlich eine derart einzigartige Geschichte, wie Herr Blocher sagt. Aber wenn ich es mir erlauben darf: Die Schweiz muss aufpassen, dass ihre Neutralität nicht rein eigennützig wirkt.
Manche sagen, im Zweiten Weltkrieg war sie genau das: eigennützig und opportunistisch.
Das kann man vielleicht so sehen, ja. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich glaube durchaus, dass es für die traditionelle Vermittlerrolle der Schweiz einen Platz gibt in dieser neuen Welt. Als Ort für Verhandlungen. Auch weil die Schweiz nicht in der EU ist.
Sie sind ein glühender Europäer. Brexit hat Sie tief getroffen. Wie geht es Ihnen heute damit?
Innerhalb des letzten Jahres haben viele Briten ihre Haltung geändert. Heute gibt es eine klare Mehrheit, die den Brexit als Fehler bezeichnet. Wir werden wohl bald am selben Punkt sein wie die Schweiz – und darüber nachdenken, ob wir ein Rahmenabkommen mit der EU wollen. Aber ihr Schweizer wisst es besser als wir: Diese Option ist nicht sehr attraktiv. Die andern machen Regeln, die man übernehmen muss.
Sie glauben, Grossbritannien wird sich wieder nach Europa orientieren?
Wir sind in Europa! Das Problem ist: Wir werden von der EU keinen Sonderdeal mehr bekommen wie beim letzten Mal, wo wir ausserhalb des Schengenraums und der Eurozone waren. Das war eine À-la-carte-Mitgliedschaft. Ich kann mir deshalb vorstellen, dass wir mit euch und Norwegen eine ganze Zeit lang im selben ungemütlichen Schwebezustand bleiben.
«Europa. Eine persönliche Geschichte» von Timothy Garton Ash im Hanser Verlag. Ab 17. April im Handel.