Was ist Ihre erste Erinnerung ans Meer?
Andreas Teuscher: Salz und Seeigel. Ich liebte es, als Kind in den Ferien tagelang zu schnorcheln.
Wann haben Sie als Historiker zum ersten Mal realisiert, dass die Schweiz näher am Meer ist als gedacht?
Als ich Pläne aus dem Jahr 1918 zur Stadtentwicklung Zürichs in der Hand hielt und mir auffiel, dass da überall Häfen projektiert waren. Meine erste Reaktion war: Hä, ernsthaft?
Andreas Teuscher (43), in Zürich geboren, studierte an der Universität Zürich Geschichte und Volkswirtschaft. Während einer Seminararbeit entdeckte er auf Plänen der Stadt Zürich Standorte für Häfen. Daraufhin widmete er sich der Erforschung der Schiffbarmachung. Seine Lizentiatsarbeit erschien 2014 als Buch. Heute leitet Teuscher bei der Zürcher Kantonsarchäologie die Redaktion und das Labor.
«Schweiz am Meer: Pläne für den ‹Central-Hafen› Europas inklusive Alpenüberquerung mit Schiffen im 20. Jahrhundert», Andreas Teuscher, Limmat Verlag.
Andreas Teuscher (43), in Zürich geboren, studierte an der Universität Zürich Geschichte und Volkswirtschaft. Während einer Seminararbeit entdeckte er auf Plänen der Stadt Zürich Standorte für Häfen. Daraufhin widmete er sich der Erforschung der Schiffbarmachung. Seine Lizentiatsarbeit erschien 2014 als Buch. Heute leitet Teuscher bei der Zürcher Kantonsarchäologie die Redaktion und das Labor.
«Schweiz am Meer: Pläne für den ‹Central-Hafen› Europas inklusive Alpenüberquerung mit Schiffen im 20. Jahrhundert», Andreas Teuscher, Limmat Verlag.
Das waren ernsthafte Pläne?
Absolut. Heute reagieren ja viele Menschen schon fast belustigt auf die Idee, dass die Schweiz von Kanälen durchzogen sein könnte und man mit Lastkähnen über die Alpen fährt. An meinem ersten Vortrag zum Thema war ein emeritierter ETH-Professor, der ziemlich verärgert auf solche Rückmeldungen aus dem Publikum reagiert hat und darauf hinwies, dass wir uns nicht darüber lustig machen sollten. Es sei eine ernsthafte Angelegenheit gewesen. Und das stimmt!
Woher stammen die Pläne, die Sie in Zürich fanden?
Es gab am Anfang des 20. Jahrhunderts einen Stadtplanungswettbewerb für die Entwicklung von «Gross-Zürich». Vorschläge für Hafenstandorte waren dort eine Bedingung.
Nur in Zürich?
Nein, ich merkte bei meinen Recherchen schnell, dass das ein grosses Thema war: Auch in Bern gab es Pläne, in der Westschweiz, fast überall, wo es einen Fluss hat. Bei diesen Häfen ging es letztlich immer darum, die Schweiz mit dem Meer zu verbinden. Wissenschaftlich war das Thema bis zu meinem Buch komischerweise erst wenig bearbeitet.
Wer hatte als Erster die Idee, die Schweiz mit dem Meer zu verbinden?
Der Ingenieur Rudolf Gelpke fuhr 1903 mit dem Dampfschiff von Strassburg nach Basel. Das war ein Riesenereignis – und so etwas wie der Startschuss. Ein Jahr später versuchte er es auch mit einem kohlebeladenen Schleppgespann. Darauf wurde der Bau des Hafens in Basel forciert. Der Rhein nördlich von Basel wurde mit baulichen Massnahmen besser schiffbar gemacht; damit stellte man den Anschluss an die Nordsee her. Doch Basel war in der Schweiz nicht als Endhafen gedacht.
Sondern?
Über den Transhelvetischen Kanal wollte man eine Verbindung vom Rhein bis zum Genfersee herstellen.
In dieser Zeit bauten die Nationalstaaten in ganz Europa Kanäle.
Genau. Und die Schweiz hatte Angst, umfahren zu werden, wenn wir nicht selbst bauen. Dazu kam im Ersten Weltkrieg auch ganz stark die Suche nach Projekten, die das Land zusammenhalten. Die Romandie stand eher auf der Seite Frankreichs, in der Deutschschweiz gab es viele Sympathien für Deutschland. Da war ein Kanal vom Bodensee an den Genfersee ein schönes Projekt. Man schlachtete das auch aus. Ich las in einer Broschüre mal den Satz: «Romanen und Germanen werden sich Schiffergruss bieten.»
Was sollten die Schiffe transportieren?
Kohle, Weizen – all diese schweren Importgüter. In den Kriegen kam die Sorge um die Versorgungssicherheit dazu. Man realisierte, wie abhängig man vom Ausland war. Was tun, wenn über den Rhein nichts mehr hereinkommt? Also begann man, einen Rhonekanal von Genf aus zu planen. Oder einen Zugang über das Tessin in die Adria oder nach Genua.
In dieser Zeit entstand auch der Mythos Alpenland. Wie passt das zusammen?
Die Schweiz galt über Jahrhunderte als Hüterin der Alpenpässe. Es gab die Theorie, dass die Schweiz nur deshalb existiert und von den Grossmächten akzeptiert wird. Es galt: Je mehr Verkehr durch die Schweiz, desto besser für die Schweiz. Das hört sich lustig an, wenn man bedenkt, dass wir heute vor allem über die Begrenzung des Transitverkehrs reden.
Der Güterverkehr begann sich damals auf die Schifffahrt zu verlagern.
Nach jener Logik hatte die Schweiz gar keine andere Wahl, als zu einem Schifffahrtsland zu werden, um ihre Existenzgrundlage zu behalten. Es galt, dem Verkehr alle Tore zu öffnen, um die Schweiz zu schützen.
Den kühnsten Plan hatte ein Ingenieur namens Pietro Caminada, der 1908 ein Kanalprojekt von Genua nach Basel vorstellte – und den Kanal über den Splügenpass führen wollte. Wer war er?
Ein Ingenieur mit grossen Visionen. Er hatte Schweizer Wurzeln, wuchs aber in Mailand auf. Er war unglaublich umtriebig, verkehrte mit dem König von Italien, erfand die geneigten Röhrenkanäle. Caminada glaubte, dass dank seiner Erfindung Schiffe über die Alpen fahren können. Technisch hätte das sogar funktioniert.
Auch aus heutiger Sicht?
Ich bin kein Ingenieur – aber ja, es wäre möglich gewesen. Aber es wäre ein unglaublich aufwendiges Projekt gewesen. Nur, andere Monsterprojekte wurden damals durchaus realisiert, der Suezkanal zum Beispiel.
Italien schien es zu wollen, Deutschland in Teilen auch. Wie stand die Schweiz dazu?
Sehr zurückhaltend. Man nahm ihn in der Schweiz nicht so ernst. In Splügen hat man ihn eher belächelt. Der Splügenkanal scheiterte letztlich am Geld.
Und wieso wurde der Transhelvetische Kanal nie gebaut?
Der Bundesrat wollte erst bauen, wenn es eine westliche Anbindung an die Rhone geben würde. Darauf wartete man. Es gab diplomatische Vorstösse aus der Schweiz in Frankreich zu dem Thema. Es gab wilde Pläne mit Schifffahrtstunneln unter Genf hindurch. Man wollte den Bodensee anbinden. Dieser Plan war bis in die 70er-Jahre aktuell. Aber da war der Rheinfall im Weg (lacht). Trotzdem gab es bis in die 90er-Jahre eine Verordnung, die die Offenhaltung der Flüsse regelte.
Was bedeutete das?
Die Flüsse mussten von Hindernissen freigehalten werden, die die Schifffahrt behindern würden. Beim Bau von Kraftwerken musste aufgezeigt werden, wo Schleusen hinkommen sollten. Der Viadukt der A5 bei Yverdon wurde noch 1982 so gebaut, dass Schiffe untendurch fahren könnten.
Wie würde die Schweiz aussehen, wäre dieser Kanal gebaut worden?
Das Mittelland wäre wohl industrieller und hässlicher geworden. Man könnte heute aber mit dem Schiff vom Mittelland nach Genf fahren, das wäre durchaus nett.
Ab wann begann sich Widerstand zu organisieren?
In den Kriegen war die Umwelt kein Thema. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg begannen sich die Menschen Gedanken zu machen, was das für die Natur bedeutet. Bei Rheinau im Kanton Zürich gab es Pläne für ein Flusskraftwerk, die auch als Vorbereitung für die Schifffahrt galten. Dafür hat man den Fluss gestaut – und den Rheinfall bei Niedrigwasser leicht verkürzt. Bei Baubeginn ging dann ein Aufschrei durch die Bevölkerung: Die machen den Rheinfall kaputt, hiess es.
Wie ging es weiter?
Daraus entwickelte sich die erste grosse Volksbewegung für den Umweltschutz in der Schweiz. Doch es ging nicht nur um die Umwelt.
Worum ging es auch noch?
Soldaten meldeten sich und sagten, sie hätten keine Lust, ein «bis zur Erschöpfung gestautes Grenzgewässer» zu verteidigen. Man schürte Angst vor «braungrünen, schmutzigen Schleusentümpeln» – also einem Rhein ohne viel Wasser.
Die Frage war also emotional aufgeladen.
Ja. Und es hiess auch, dass die Schweizer Jugend in einem Fluss mit starker Strömung baden muss, damit sie stark wird. Es gab aber auch Teile der Bevölkerung, die sich für den Bau starkmachten. Die Wirtschaft schwächelte in der Ostschweiz und viele erhofften sich Aufschwung. Da haben in Rheinau 15’000 Menschen gegen die Schifffahrt demonstriert – und Tausende in St. Gallen für die Schifffahrt.
Eine Massenbewegung!
Ja, aus der Bewegung zum Schutze Rheinaus entwickelte sich 1960 der Rheinaubund, der massgeblich an der Verankerung des Natur- und Heimatschutzes in der Verfassung beteiligt war.
Heute scheint die Schweiz dem Meer trotzdem nähergerückt zu sein. Man spricht von Mediterranisierung.
Das Leben hat sich nach draussen verschoben. Es ist durch die Klima-Erwärmung auch wärmer geworden. Aber die Schweiz und das Meer waren schon immer ein Thema. Die Alpen brauchen ein Gegenstück, um als Identität zu dienen. Das ist das Meer. Ich ass vor kurzem in Silvaplana gerade eine Pizza «Mare e Monti» – die eine Hälfte aus Bergprodukten, die andere mit Meeresfrüchten. Fein!
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