Das Hotel Bellevue in Bern ist legendär. In der Lobby des gediegenen Fünfsternehotels direkt neben dem Bundeshaus trafen und treffen sich Diplomaten, Geheimdienstler, Netzwerker. Es ist kein Zufall, hat Paul Widmer den Ort als Treffpunkt für das Interview ausgewählt. Der Ex-Diplomat gilt als bester Kenner der Geschichte der Schweizer Aussenpolitik. In seinem neusten Buch befasst er sich mit dem Sonderfall Schweiz – und der Neutralität. Ein undiplomatisches Gespräch.
Wie neutral ist die Schweiz heute noch?
Paul Widmer: Die Schweiz ist das neutrale Land par excellence. Neutralität ist seit 500 Jahren die Leitlinie unserer Aussenpolitik. Aber ich begreife, wieso Sie die Frage stellen. Der Bundesrat hat beim russischen Angriff auf die Ukraine unglücklich reagiert.
Inwiefern?
Zuerst hat er gesagt, wir befolgen den Courant normal und sorgen dafür, dass niemand über die Schweiz Sanktionen umgeht, übernehmen aber die Sanktionen nicht. Vier Tage später knickte er ein und übernahm die Wirtschaftssanktionen der EU integral. Das führte dazu, dass sowohl Putin wie auch Biden fanden, die Schweiz sei nicht mehr neutral. Da lief etwas falsch.
Paul Widmer (73) wuchs im Toggenburg auf. In Zürich studierte er Geschichte und Philosophie. 1977 trat er in den diplomatischen Dienst ein. Er leitete unter anderem den OSZE-Dienst in Bern und die Schweizer Vertretung in Berlin. Widmer war Botschafter in Kroatien, Jordanien und beim Heiligen Stuhl in Rom. Heute ist er bekannt als profunder Kenner der Geschichte der Schweizer Aussenpolitik. Er hat zahlreiche Bücher publiziert, die in der Schweizer Diplomatie als Standardwerke gelten. Vor kurzem erschien «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr», NZZ Libro.
Paul Widmer (73) wuchs im Toggenburg auf. In Zürich studierte er Geschichte und Philosophie. 1977 trat er in den diplomatischen Dienst ein. Er leitete unter anderem den OSZE-Dienst in Bern und die Schweizer Vertretung in Berlin. Widmer war Botschafter in Kroatien, Jordanien und beim Heiligen Stuhl in Rom. Heute ist er bekannt als profunder Kenner der Geschichte der Schweizer Aussenpolitik. Er hat zahlreiche Bücher publiziert, die in der Schweizer Diplomatie als Standardwerke gelten. Vor kurzem erschien «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr», NZZ Libro.
Die Schweiz gilt im Ukraine-Krieg im Westen als Profiteurin, in Russland als willige Helferin des Westens.
Die Neutralität ist nie beliebt. Im Kriegsfall will jede Partei Unterstützung für ihre Sache. Was aber stimmt: Wir taten in letzter Zeit zu wenig, um als Staat mit einer glaubwürdigen Aussenpolitik wahrgenommen zu werden.
Wie handelt denn ein glaubwürdiger Staat?
Wir wissen, dass es Firmen gibt, die in der Schweiz gegründet wurden, um Umgehungsgeschäfte für Russland durchzuführen. Da müssen wir aus prinzipiellen Gründen aktiver werden.
Tun wir das nicht?
Zu wenig. Das Parlament hat sich bei der Verschärfung des Geldwäschereigesetzes geweigert, die Regeln für den Finanzsektor auf Anwälte und Treuhänder auszudehnen. Das ist eine klassische Schlaumeierei und hindert uns, beim Verdacht auf Umgehungsgeschäfte richtig durchzugreifen. Das schafft nirgends Vertrauen.
Sie reden immer wieder von Vertrauen. Wieso?
Vertrauen ist das einzige Kapital der Diplomatie. Der Diplomat kann nur mit Worten überzeugen. Auf Vertrauen basiert auch die Schweizer Aussenpolitik.
Vor einer Woche unterschrieb die Schweiz eine Absichtserklärung, um dem europäischen Raketen-Schutzschirm Sky Shield beizutreten. Geht das als neutraler Staat?
Ein Beitritt wohl nicht. Aber es gibt durchaus Bereiche, wo sich die Schweiz als neutraler Staat beteiligen kann, beispielsweise bei der Beschaffung von Abwehrsystemen. Ich bin froh, dass unsere Nachbarn ein Luftverteidigungsschild aufbauen wollen.
Wo sind die Grenzen?
Namentlich bei gemeinsamen Übungen. Sonst schlittert die Schweiz in ein militärisches Bündnis hinein. Die Grenzen der Zusammenarbeit muss man ernsthaft prüfen und nachher die Folgerungen daraus ziehen. Leider geht Bundesrätin Amherd umgekehrt vor: Sie unterzeichnet eine gemeinsame Absichtserklärung, noch bevor eine gründliche Prüfung erfolgte.
Mit Verlaub: Die Schweiz nähert sich der Nato seit dem Ende des Kalten Kriegs schrittweise an. Da ist es doch nur konsequent, dass wir auch hier mitmachen, und zwar richtig.
Es wäre ein Fehler. Genauso wie es ein Fehler war, als wir uns in den 90er-Jahren entschlossen haben, beim Nato-Projekt «Partnerschaft für den Frieden» mitzumachen. Dieses Gebilde wurde ins Leben gerufen, um Nicht-Nato-Staaten an das Bündnis heranzuführen. 16 dieser Staaten sind mittlerweile beigetreten. Dieser «Zubringerdienst» zur Nato hat die Schweizer Neutralität sicher nicht gestärkt. Und es hat Konsequenzen, die wir gerade in der aktuellen Situation spüren.
Welche?
Die deutsche FDP-Sicherheitspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, eine Verfechterin umfassender militärischer Hilfe für die Ukraine, sagt über die Schweiz: Sie müsste mehr helfen, sie sei ja schon Mitglied der Partnerschaft für den Frieden. Bezüglich des Luftschilds vernimmt man aus der deutschen Presse hämisch, wir sollen uns erst mal angemessen an der Rüstungshilfe für die Ukraine beteiligen, bevor wir uns unter den Schutzschild der Europäer stellen.
Was ja durchaus nachvollziehbar ist. Gerade hat der Bundesrat die Ausfuhr von Leopard-1-Panzern in die Niederlande blockiert!
Wir konnten gar nicht anders. Unser Parlament hat erst jüngst das Kriegsmaterialgesetz verschärft und verlangt vom Bundesrat, dass er bei Rüstungsgeschäften immer eine Wiederausfuhrgenehmigung bekommt. Das ist ein Schweizer Gesetz und hat nichts mit Neutralitätsrecht zu tun. Aber weil die Länder die Leopard-Panzer an ein kriegsführendes Land wie die Ukraine weiterreichen wollen, kommt nun das Neutralitätsrecht ins Spiel. Wir haben uns selbst in eine Sackgasse manövriert. Es gäbe eine Lösung: den Wiederausfuhrartikel streichen. Dann hat der Bundesrat wieder Spielraum.
Als Sie hörten, Russland marschiere in der Ukraine ein: Was war Ihr erster Gedanke?
Ich dachte: Mein Gott, was für ein Rückfall.
Und auf die Schweiz bezogen?
Ich dachte nicht sofort daran, was es für die Schweiz bedeutet. Ich stand wie jedermann unter dem Eindruck des Unglaublichen. In einer zweiten Phase war mein Gedanke: Wir sollten in der Schweiz überglücklich sein, eine neutrale Tradition zu haben. Sie hat sich im Ersten Weltkrieg bewährt, sie hat sich im Zweiten Weltkrieg bewährt, sie hat sich im Kalten Krieg bewährt. Aber die Reaktion vieler Schweizer war leider immer gleich irr.
Irr?
Nach dem Ersten Weltkrieg sagten viele: Ja, die Neutralität hat sich bewährt, aber in Zukunft wird sie es nicht mehr. Nach dem Zweiten Weltkrieg hiess es dasselbe. Und raten Sie mal, was es nach dem Kalten Krieg hiess? Wiederum das Gleiche. Menschen handeln normalerweise umgekehrt: Wenn etwas erfolgreich ist, bleiben sie beim Erfolgsrezept. Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg, sagen die Amerikaner.
Seien wir doch ehrlich: Die Neutralität war doch in erster Linie geschäftsfördernd für die Schweiz.
Übertreiben wir nicht. Im Allgemeinen haben wir die Neutralität nicht so ausgeübt, dass es geschäftsfördernd war.
Der Zweite Weltkrieg ist doch ein Beweis dafür, wie die Neutralität dem Image schaden kann. Im Fall der Schweiz bis heute.
Ich verstehe Ihren Punkt. Aber selbst Churchill fand, dass die Schweiz im Ganzen eine akzeptable Neutralitätspolitik betrieb. Natürlich hat die Schweiz im Kriegsfall gewisse Konzessionen gemacht, die schmerzhaft waren.
Was braucht es, damit die Neutralität in der Schweiz verankert bleibt?
Die Neutralität bedingt eine Politik, zu der die Menschen stehen können. Wir haben in der Vergangenheit zuweilen eine Politik verfolgt, die sich dem Geld unterordnet. Nehmen Sie die Holdingsteuern, wo wir bereit waren, inländische Firmen schlechter zu stellen als ausländische. Einfach nur, um Geld anzuziehen. Das kann keinen Bestand haben. Aber die Neutralität hat eigentlich ein gesundes Fundament. Das hat schon der Philosoph Kant erkannt: Wenn kein Staat einen Krieg anzetteln und Krieg führende Staaten unterstützen würde, hätten wir Frieden auf Erden.
Was halten Sie von der Neutralitäts-Initiative der SVP?
Bis jetzt war die Neutralität der mit Abstand wichtigste Grundsatz unserer Aussenpolitik. Es ist ein Grundsatz von Verfassungsrang, aber er steht nicht in der Verfassung. Wenn man das mit Gesetzen durchsetzen muss, dann ist etwas morsch.
Auch im Inland ist die Neutralität mittlerweile umstritten. Warum?
Es gab in der Schweiz immer wieder Neutralitätsverächter, gerade auch im Bundesrat. Viele halten an der Neutralität nicht aus Überzeugung fest, sondern nur deshalb, weil sie im Volk so tief verankert ist. In der Bevölkerung, das zeigen alle Umfragen, gibt es eine klare Mehrheit dafür. Eliten sind einfach weniger neutralitätsfreundlich als das Volk.
Wieso?
Weil die Neutralität den Handlungsspielraum der Mächtigen einschränkt. Dem Bürger ist nicht die Macht, sondern die individuelle Freiheit wichtig.
Was meinen Sie damit konkret?
Das versuche ich in meinem Buch aufzuzeigen: Der beste Staat ist jener, in dem die Bürger, die die Konsequenzen politischer Entscheidungen tragen müssen, sie auch fällen.
Im Juni ist Paul Widmers neues Buch «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr» (NZZ Libro) erschienen. Es ist ein Plädoyer dafür, die Eigenheiten des Sonderfalls Schweiz zu bewahren. Zu ihnen zählt Widmer nebst der direkten Demokratie und einem starken, aber schlanken Staat auch die Neutralität. Er sieht sie in Gefahr.
Im Juni ist Paul Widmers neues Buch «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr» (NZZ Libro) erschienen. Es ist ein Plädoyer dafür, die Eigenheiten des Sonderfalls Schweiz zu bewahren. Zu ihnen zählt Widmer nebst der direkten Demokratie und einem starken, aber schlanken Staat auch die Neutralität. Er sieht sie in Gefahr.
Nur funktioniert es nicht mehr. Immer weniger Menschen engagieren sich im Milizsystem.
Ja, es ist gefährdet. Aber viel mehr in den Grossstädten als auf dem Land. Dort sind noch mehr Menschen bereit, Eigenverantwortung zu übernehmen. Was geschieht, wenn Sie das Milizsystem aufgeben? Sie geben als Bürger Rechte ab an die Verwaltung. Aber wo der Bürger abdankt, übernimmt der Bürokrat. Und um ein Stück Freiheit ist es geschehen. Das ist sicher bequemer. Vielleicht geht es auch nicht anders. Aber ideal ist es nicht.
Kann man das Milizsystem wieder attraktiver machen?
Ich habe da keine einfache Formel. Es geht um Wertvorstellungen. Wem es nur ums Geld geht, der engagiert sich nicht in der Gemeindepolitik. Das Gemeinwohl müsste wieder mehr im Zentrum unserer Gesellschaft stehen.
Sie zitieren in Ihrem Buch mit Michel de Montaigne (1533–1592), einen Denker aus dem 16. Jahrhundert, der sagt, man solle das Erworbene pflegen, statt es mit vermeintlichen Neuerungen zu ersetzen. Ist das nicht Schnee von gestern?
(Lacht) Da denken Sie zu grosszügig. Die Demokratie entstand in der Antike, ist das auch Schnee von gestern? Nein. Wir unterliegen einem wahnhaften Zwang zum Neuen. Fragen Sie mal die Bundeskanzlei, wie viele Initiativen derzeit hängig sind. Rund 30. Glauben Sie, daraus entstünden 30 Verbesserungen?
Die Schweiz soll einfach bleiben, wie sie ist?
Nein, natürlich brauchen wir Veränderungen. Aber wir würden uns besser an den heiligen Paulus halten, der sagte: Prüfe alles, bewahre das Beste.
Paul Widmer, Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr, NZZ Libro