Gleich zu Beginn verkündet ein Schauspieler das Ende: «No show today! C’est annulé! Cancellato! S isch abgseit! Abgesagt! Das Wälttheater!» Doch dann läuft ein Chor singender Kinder auf den grossen Platz vor dem Kloster Einsiedeln SZ und lässt sich nicht aufhalten. «Mir ghöret zum Wälttheater. Mir händ e Rolle», sagt Emanuela. Und Pablo ergänzt: «En chlini. Mir schpilet die unerzogene Chind.» Darauf gibt ihm Emanuela einen Tritt: «Pablo! Nöd die unerzogene, die ungeborene Chind.»
Ab dem 11. Juni bis zum 7. September steht Flavio Lang (12) in der Rolle des jungen Pablo auf der Bühne des Welttheaters Einsiedeln. Die legendäre Darbietung des allegorisch-religiösen Schauspiels «El gran teatro del mundo» nach dem spanischen Dichter und Dramatiker Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) kommt im 100. Jahr in der Bearbeitung des Schweizer Schriftstellers Lukas Bärfuss (52) und unter der Regie von Livio Andreina (70) zur Aufführung.
Vorbilder aus der Verwandtschaft
Seit 1924 spielen Laiendarstellerinnen und -darsteller aus Einsiedeln mit – dieses Jahr die ganze Familie Lang: Während Flavio den jungen Pablo gibt, spielt sein jüngerer Bruder Valentin (10) Trompete im Musikensemble und ihre Schwester Leonie (14) verschiedene Rollen im Schauspiel, ebenso wie Mutter Rita Lang (39). Vater Lukas Lang (43) ist derweil als Mitglied des Welttheater-Vorstands verantwortlich für die Finanzen. 4,85 Millionen Franken beträgt das Budget, 80 Prozent der Einnahmen deckt der Ticketverkauf.
«Ich bin familiär vorbelastet», sagt Lukas Lang, «mein Onkel James Kälin ist Präsident des Vorstands, und schon mein Grossvater war sehr engagiert auf der Bühne.» Dass nun Frau und Kinder mitwirken, ist die konsequente Weiterführung dieser Tradition – wer auf eine lange Geschichte zurückblicken will, der muss in die Zukunft investieren. Und was wirkt effektiver als eine familiäre Vererbung des Theatervirus? Wie lässt sich die Lust am Welttheater besser wecken als durch Vorbilder aus der Verwandtschaft?
Theaterprobe im April: In der grossen Mehrzweckhalle der Einsiedler Sportanlage Beachplus versammelt sich nach und nach eine Hundertschaft aus dem Dorf, ein bisschen mehr Frauen als Männer, darunter die Familie Lang. Ein Farbengewimmel, ein Stimmengewirr. Um 19.15 Uhr klatscht Regisseur Andreina in die Hände und erklärt, was heute auf dem Programm steht: Zu üben ist die Marching Band, der Weltenwirbel und der Fahnenmarsch. Die Proben sollen mit dem Trauermarsch enden.
Flugs versammeln sich Gruppen in den Ecken der Halle – alle wissen, wo sie hingehören: Hier packen die Musikerinnen und Musiker ihre Instrumente aus, dort stimmt sich der Chor auf den Gesang ein, macht Gymnastikübungen. Valentin Lang greift zu seiner Trompete, die er seit drei Jahren spielt, Mutter und Tochter stehen beim Chor. Nur Flavio fühlt sich ein bisschen verloren, geht zum Vater, der vom Rand aus alles beobachtet. «Ich glaube, ich habe heute keinen Einsatz», sagt der Sohn zu Lukas Lang.
«Wir mussten zu Hause viel organisieren»
Doch dann kommt alles anders. Plötzlich ruft der Regisseur nach der Figur Pablo: Flavio Lang muss sich auf den fiktiven Klosterplatz stellen, tänzelt, während sich die Marching Band mit Pauke und Trompeten auf ihn zubewegt – mittendrin Valentin Lang. Er hält sich gerne an seinem Instrument fest. «Ich spiele auch gerne Theater», sagt er ein bisschen scheu, «aber nicht, wenn so viele Menschen zuschauen.» Jeden Abend werden es rund 2000 Personen sein. Seinem älteren Bruder macht das nichts aus. «Ich finde es echt cool, es macht Spass», sagt Flavio Lang.
Als das Einsiedler Welttheater 2013 in der Fassung des Schweizer Schriftstellers Tim Krohn (59) letztmals zur Aufführung kam, war Valentin noch gar nicht auf der Welt, Leonie und Flavio waren Kleinkinder. Und Mutter Rita Lang, von Beruf Primarschullehrerin, kannte das Welttheater nur von der Tribüne statt der Bühne. Und nun steht die Familie zusammen im Rampenlicht. «Ich freue mich auf den Moment, wo wir alle miteinander zum ersten Mal vor Publikum auf dem Platz stehen», sagt Rita Lang.
Rund 70 Meter breit und 50 Meter tief ist der Spielbereich – da kann man sich schnell verlieren. Mutter und Tochter werden zeitweise in derselben Gruppe sein. «Ich bin am Anfang bei den Bauern», sagt Leonie Lang, «dann bei den Gleichgeschalteten und den Elenden.» Bei der Szene der Bauern sei sie auch dabei, sagt die Mutter, «aber als Teil der Weltenwunder.» Die reichen in der Fassung von Bärfuss vom Stillen Ozean über den Tagwind bis zu El Niño und dem Hurricane der Stufe neun.
Und mittendrin Familie Lang. Die stürmischen Zeiten begannen für sie bereits im Januar, als die ersten Probentermine feststanden. Anfangs hatte jede und jeder zu einem anderen Zeitpunkt ein Aufgebot. Und ab und zu kam ein Probe-Wochenende dazu. «Wir mussten zu Hause am Esstisch viel diskutieren und organisieren», sagt Lukas Lang. Und die Eltern gingen die einzelnen Figuren durch und fragten den Text ab. «Aber die Kinder konnten ihn relativ schnell auswendig.»
Ein Sternmarsch mit 1600 Kindern
Flavio Lang war zunächst erstaunt über die Textmenge, die er auswendig lernen musste. Aber es war dann einfacher als gedacht, weil es ein Dialog ist. «Wenn jemand dies sagt, dann muss ich das sagen», sagt der Zwölfjährige. «Ich muss einfach richtig reagieren.» Und da er als Pablo meist mit der vorwitzigen Emanuela auftritt, muss er nur auf das Stichwort warten, das sie ihm vorgibt. Emanuela: «Pablo! Pablo! Lueg!» Pablo: «Wär isch das?» Emanuela: «Das isch dänk d Wält!»
Leonie Lang hörte erstmals 2020 vom Welttheater, als die Bärfuss-Fassung programmiert war, dann aber dem Lockdown infolge der Corona-Pandemie zum Opfer fiel. «Ich war damals noch jünger und habe mich nicht so gut mit dem Stoff befasst», sagt sie. «Jetzt, da ich die Geschichte verstehe, ist es schon sehr cool.» Auch in ihrer zweiten Sekundarklasse befassen sie sich mit dem Welttheater – das ganze Schulhaus nimmt am 25. Mai bei der Prozession zum 100-Jahr-Jubiläum teil.
Rita Lang ist Mitorganisatorin dieses tanz- und theaterpädagogischen Projekts. «In einem Sternmarsch laufen 1600 Kinder durch Einsiedeln und versammeln sich schliesslich auf dem Klosterplatz», sagt sie. Die Schülerinnen und Schüler haben sich zuvor mit ihren Lehrpersonen Gedanken gemacht, wie sich König, Bauern, Schönheit, Arme, Reiche, Vernunft oder ungeborene Kinder am besten darstellen lassen, und dafür passende Kostüme und Accessoires gebastelt – ein farbiger und schriller Anlass zum Auftakt des Welttheaters.
Primarschullehrerin Lang hat das Welttheater sogar in den Unterricht eingebaut: In der Mathematik musste die Klasse eine Flächenübung machen und ausrechnen, wie viel Platz jeder Spielfigur auf dem Klosterplatz zur Verfügung steht. Denn Ziel ist es, die junge Generation für das Welttheater zu begeistern. Oder wie es Emanuela als Kind am Schluss des Stücks sagt: «Chömet. Mir wänd schpile! Schpile!»
«Hallo Welt. Wir sind da! Deine Kinder», eine Prozession mit 1600 Kindern zum 100-Jahr-Jubiläum am 25. Mai in ganz Einsiedeln, 9 bis 12.30 Uhr.
«Welttheater Einsiedeln» in der Bearbeitung von Lukas Bärfuss vom 11. Juni bis 7. September 2024 auf dem Klosterplatz Einsiedeln, jeweils um 20.45 Uhr.