Auf einen Blick
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Karen Merkel (43) und ihr Mann (40) das Elternwerden minuziös planten. Sie führten sogar eine Exceltabelle, aus der ersichtlich war, wann es mit dem Kinderkriegen mit Blick auf Karriereplanung und berufsbegleitendes Studium frühestens passt. «Heute muss ich über uns selber lachen. Wir waren naiv», sagt Merkel. Ausgehend von ihren persönlichen Erfahrungen hat die Journalistin das Buch «Wunsch Kind» geschrieben, ein Ratgeber zum Thema unerfüllter Kinderwunsch, der gerade erschienen ist.
Zunächst ging alles gut: Mit 36 wurde die Journalistin zum frühestmöglichen Zeitpunkt schwanger, und neun Monate später machte eine Tochter das Paar zur Familie.
Klappt es mit dem Schwangerwerden auch beim zweiten Mal?
Wer jahrelang verhütet hat, geht davon aus, dass aus ungeschütztem Sex ein Kind entsteht. Doch wer ein Kind bekommen möchte, tritt eine Reise ins Unbekannte an. Und ist dann einmal alles gut gegangen, fühlt sich ein Paar erst mal auf der sicheren Seite. Es hat ja schon einmal geklappt, da wird es doch wieder.
Wird es häufig nicht. Oder zumindest nicht so einfach wie beim ersten geglückten Mal. Gynäkologin Patricia Faas, die in ihrer Zürcher Praxis Paare mit Kinderwunsch berät und medizinisch unterstützt, sagt: «Gemäss einer Langzeitstudie mit Daten von über 400’000 Frauen in Italien liegt die Wahrscheinlichkeit, ein zweites Wunschkind zu bekommen, bei nur 60 Prozent.» Merkel schreibt in ihrem Buch, etwa die Hälfte aller Kinderwunschpatientinnen seien bereits Mutter.
Als der Zeitpunkt für eine zweite Schwangerschaft stimmte, wurde Karen Merkel schnell wieder schwanger. Wie schon beim ersten Kind. Nur: Diesmal lief es nicht gut; sie erlitt eine Fehlgeburt in der achten Woche. Ein Schock. Das völlig entspannte Gefühl der Zuversicht, der guten Hoffnung: dahin.
Eine weitere Schwangerschaft folgte – und endete erneut früh, in der sechsten Woche. Ihr Körper durchlief eine hormonelle Achterbahnfahrt. Schwanger, nicht schwanger, schwanger, nicht schwanger. Das machte ihr zu schaffen. Ihre Ärztin war zuversichtlich. Fehlgeburten seien nichts Aussergewöhnliches. Etwa jede sechste Schwangerschaft endet mit einer Fehlgeburt.
Das grosse Schweigen über Fehlgeburten
Trotzdem: Karen Merkel haderte mit dem Schicksal. Über die einschneidenden Fehlgeburtserlebnisse sprach sie mit kaum jemandem – denn die Schwangerschaften hatte das Paar noch für sich behalten. Als sie erneut schwanger wurde, erzählte sie einigen Freundinnen und nahen Verwandten davon. Sie wollte nicht wieder alleine sein mit dem Erlebnis, sollte es zu einer weiteren Fehlgeburt kommen. So kam es dann auch; in der dreizehnten Schwangerschaftswoche erfuhr sie, dass das Herzchen schon länger aufgehört hatte zu schlagen. In Sekunden zerbrach ihre Welt. «Man guckt auf den Bildschirm vom Ultraschall, sieht keinen Herzschlag – und plötzlich ist alles anders», sagt Merkel.
In Bern unterstützt Psychotherapeutin Christa Dold (49) Frauen und Paare mit Kinderwunsch. «Der unerfüllte Kinderwunsch bei einem Geschwisterkind ist ein unterschätztes Thema», sagt sie. «Häufig fehlt es an Verständnis aus dem Umfeld, weil ja schon ein Kind da ist. Aber auch Betroffene selbst gestehen sich teils nicht ein, wie gross ihr Leidensdruck ist.»
Karen Merkel entschied sich nach der dritten Fehlgeburt für die Flucht nach vorne. Sie sprach offen über ihre Trauer und ihre Erlebnisse – und bekam viele ähnliche Geschichten zu hören. «So häufig klappt es mit dem Kinderkriegen nicht, aber viele Paare behalten es für sich», sagt sie. Es hilft Betroffenen oft, das Erlebte zu teilen: In ihrem Buch «Wunsch Kind» gibt Merkel darum unterschiedlichen Kinderwunschgeschichten Raum. Im Zentrum des Ratgebers steht aber, wie Paare Antworten finden können auf die Frage, wie weit sie für ihren Kinderwunsch gehen wollen.
Eltern nutzen seltener Reproduktionsmedizin
Reproduktionsmedizinerin Patricia Faas beobachtet, dass kinderlose Frauen, die schwanger werden möchten, rastlos sind, sehr viel in Selbstoptimierung stecken und sich über alle medizinischen Möglichkeiten informieren – und diesen Weg auch oft gehen. Mütter und Väter hingegen, bei denen der Wunsch nach einem Geschwisterkind nach einer ersten spontan entstandenen Schwangerschaft unerfüllt bleibt, seien bezüglich medizinischer Interventionen zurückhaltender eingestellt. «Manche sagen, sie wollten das Schicksal nicht herausfordern», sagt Faas.
Eine Mutter von Zwillingsbuben, nennen wir sie Alma Joos, empfindet es genau so. Die 36-Jährige sagt, sie hätte sich schon immer drei Kinder gewünscht. Seit eineinhalb Jahren versucht sie, wieder schwanger zu werden. Medizinische Gründe für die ausbleibende Schwangerschaft konnten nicht festgestellt werden. Eine Insemination blieb ohne Erfolg. Eine künstliche Befruchtung wollen ihr Mann und sie nicht. Während er nach einem Umzug an einen neuen Ort den Kinderwunsch losgelassen hat, ist sie noch nicht so weit. «Ich bin noch im Zwiespalt», sagt Alma Joos, «ich habe noch nicht akzeptiert, dass es nicht geht.» Gleichzeitig habe sie Schuldgefühle den zwei Buben gegenüber: «Reicht mir denn nicht, was ich habe?»
Psychotherapeutin Dold sagt, es erzeuge für Betroffene Stress, wenn die Realität nicht mit inneren Bildern übereinstimmt. «Wir haben Erwartungen an unser Leben, und Kinder sind ein existenzielles Thema.» Sie ermutigt Paare, sich immer wieder die Frage zu stellen, wie viel an Zeit, Geld und Energie man in das Kinderwunschthema investieren möchte. «Denn es kann das Leben im Hier und Jetzt mental blockieren.»
Wie lange weitermachen und hoffen?
Christa Dold sagt, es sei eher die Regel als die Ausnahme, dass die Intensität des Kinderwunschs bei Paaren unterschiedlich stark ist. «Wichtig ist, dass ein Paar anerkennt: Es gibt nicht den richtigen oder den falschen Weg.» Als Orientierung in dieser für die Partnerschaft herausfordernden Phase kann die Leitlinie dienen, dass der langsamere Partner das Tempo vorgibt: Ist eine Person noch nicht bereit, den Kinderwunsch aufzugeben, ist das Thema nicht vom Tisch. Ein Leidensdruck aufgrund eines unerfüllten Kinderwunschs sei nie das Problem von nur einer Person in einer Partnerschaft. «Das betrifft das ganze Familiensystem.»
Drei Fehlgeburten innert eines Jahres, der 40. Geburtstag vorbei – Karen Merkel konnte sich mittlerweile ein erfülltes Familienleben ohne zweites Kind vorstellen. Ärzte hatten dem Paar aufgrund ihres Alters und der Vorgeschichte eine Chance von 1:4 gegeben, ohne Kinderwunschbehandlung erneut Eltern zu werden. Als sie mit ihrem Mann über ihre Zweifel redete, fragte er: «Wollen wir wirklich schon aufgeben?»
Das Elternpaar entschied sich, auf Kinderwunschbehandlungen zu verzichten und dennoch noch nicht aufzugeben. Es hatte Glück. Doch: «Es gibt keine Garantie im Kinderwunsch», sagt Karen Merkel. Wenige Stunden nach der Geburt ihres Sohns bekamen die Eltern die Diagnose Down-Syndrom. Ein Schock. «Ich weiss aber, dass wir im besten Wissen und Gewissen eine ganz bewusste Entscheidung getroffen haben, eine erneute Schwangerschaft zu wagen.» Das habe ihr im Nachhinein geholfen, im Frieden zu sein mit dieser Bauch-Entscheidung, sagt die Autorin, die einst das Kinderkriegen mittels Exceltabelle organisierte.
Karen Merkel: «Wunsch Kind. Alles, was Sie wissen müssen, wenn (noch) kein Baby kommt», Beobachter Edition, 2025