Mir war heiss, ich hatte Durst, und ich stocherte mit einer Zahnbürste hinter der Heizung angesammelten Dreck hervor. Unschön, ja. Aber aufhören lag nicht drin. Es war Nachmittag, ich hatte schon die Böden meiner Wohnung geschrubbt, die Küchenschränke neu eingeräumt und die Fugen im Bad geputzt. Das an einem Sonntag, an meinem 36. Geburtstag!
Ich war im Rausch. Das Gefühl, etwas unerledigt gelassen zu haben, peitschte mich richtig an. Was los war, begriff ich, als ich am Abend meine Freunde in Zürich traf. Die Pandemie im Winter 2021 pikste, wir sassen dick eingepackt auf einer Bank im Park und tranken Schampus aus Pappbechern. Irgendwann fragte mich ein Kumpel so beiläufig, als wollte er ein Taschentuch von mir: «Und du, Kinder?»
Das war es. Ich wollte Familie, und das meldete sich Schlag 36. Bis kurz davor war ich gefühlte-ende-zwanzig gewesen. Ich hatte noch eeeewig Zeit gehabt. Der richtige Mann – kommt sicher bald! Familie – klar, irgendwann später dann! Nun hatte mein Filter gewechselt. Nun ging ich auf die vierzig zu. V-I-E-R-Z-I-G. Ich war nicht mehr single, ich war alleinstehend, mit ersten Silberfäden im Haar. Meine biologische Uhr zeigte kurz vor 12. Und zum ersten Mal streifte mich der Gedanke: Was, wenn es kein Kind mehr gibt?
Am Tag darauf gab ich «Kinderwunschklinik» bei Google ein. Bei der erstbesten, die mir preisgünstig erschien, weil sie nicht in der Stadt Zürich lag, rief ich an. Später erst fiel mir auf, dass sie Dreiviertel-ÖV-Stunden von mir entfernt lag, total blödsinnig. Später erst sickerte bei mir auch ein, was das bedeutet, seine Eizellen einfrieren zu lassen. Social Freezing. Spoiler: viele, viele Fahrten in die Klinik. Und ein Gefühl, das mich eiskalt erwischte. Aber dazu am Ende mehr.
Ich war nicht alleine, bin es nicht geblieben. Gerade stellte das Bundesamt für Gesundheit die aktuellsten Zahlen online, sie zeigen: 2019 liessen 841 Frauen ihre Eizellen einfrieren, ohne medizinischen Grund wie beispielsweise eine Krebsbehandlung. 2022 waren es 1903 Frauen – mehr als das Doppelte. Und es werden mehr. Davon geht die US-Anthropologieprofessorin Marcia Inhorn aus, die den Trend erforscht. Sie weiss: Frauen, die ihre Eier auf Eis legen, stossen auf Vorurteile. Auch ich machte diese Erfahrung. Das Thema Fruchtbarkeit ist mit einem Tabu behaftet. Und mit Scham. Vor allem, wenn es um Reproduktionsmedizin geht.
Fruchtbarkeit und Reproduktionsmedizin
Plötzlich randständig
Dazu passt die Lage der Kinderwunschklinik, die ich ansteuerte. Das hohe Gebäude mit glatten Fassaden und viel Glas steht mitten im Industriegebiet neben Qualipet-Filiale, Tankstelle und Autopneu-Händler. An manchen Tagen braucht der Bus eine halbe Stunde, bis er sich durch den zähen Verkehr zum nächsten Bahnhof gekämpft hat. Randständig, so fühlt sich das Ganze an. Und so kam ich mir vor, als ich einige Wochen nach meinem Anruf zum ersten Mal durch die Schiebetür trat. Bis ich vor der Ärztin sass.
Die Frau, weisse Skinnyjeans, ungefähr mein Alter, sprach schnell und flüssig über das Vorgehen. Jeder Satz sass so, als hätte sie ihn schon tausend Mal benutzt. Ich war beruhigt. Die Kosten streifte sie erst am Schluss, aus gutem Grund: Um die 6000, 7000 Franken sollte ich pro Eizellen-Entnahme zahlen, dazu kommen jedes Jahr 400 Franken für die Lagerung. «Happig, aber okay», dachte ich.
Auch sonst machte sie mir keine Illusionen. Sobald ich älter als 43 sei, würde sie mir die aufgetauten Eier nicht mehr einsetzen. Die Risiken bei älteren Schwangeren seien zu hoch (andere Gynäkologinnen setzen die Grenze bei 46 an). Und laut Gesetz dürfte die Klinik diese nur zehn Jahre lang aufbewahren – noch, ein gerade eingereichter Parlamentsvorstoss will die Frist verlängern. Ich willigte ein. Ich war überzeugt, dass ich es vorher schaffen würde.
Ich fuhr nun regelmässig zur Klinik, nahm auf dem Behandlungsstuhl Platz und liess mir Blut abnehmen. Die Ärztin testete mich auf Chlamydien, die Bakterien im Gebärmutterhals, die Infektionen anzetteln können. Vor meinem Eisprung schaute sie sich mit dem Ultraschallstab meine Eizellenreserve an, guckte, wie viele Eibläschen sich für einen Plopp Richtung Gebärmutter bereit gemacht hatten. Und sie studierte den Wert des Anti-Müller-Hormons, das anzeigte, ob ich fruchtbar war. Das war ich. Alles war gut.
Ich war happy und wunderte mich, dass nicht mehr Frauen ihre Eier in die Kühltruhe legen liessen. Eine Ahnung bekam ich, als ich anderen berichtete, was ich vorhatte. Sätze, die ich in Gesprächen darüber bis heute gehört habe:
Das brauchst DU doch nicht.
Andere machen es über einen One-Night-Stand.
Suche doch einen schwulen Mann, der mit dir ein Kind macht.
Verschweige beim Daten, dass du studiert hast.
Hängen geblieben ist ein Satz, der böser klang, als er gemeint war, mich aber fast umhaute: «Vielleicht hättest du früher anfangen sollen.»
Meine Grossmutter brachte meine Mutter mit 22 zur Welt. Meine Mutter mich mit 21. Beide wurden auf Anhieb schwanger. Kein Arzt musste nachhelfen. Erst mit mir, meiner Generation, ändert sich das. Aktuelle Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: Wir bekommen unser erstes Kind jenseits der 30, ein Drittel sogar nach 35. Mit uns Frauen und Männern wurde Fruchtbarkeit zum Thema, Probleme damit zum Tabu. Schuld daran war und ist das Natürlichkeitsideal, an dem man Mutterschaft misst: natürlich zeugen, natürlich gebären, natürlich stillen! Wer es nicht tut, ist falsch. Obwohl wir in einer Welt leben, in der vom Fluss bis zur maschinell abgefüllten Biomilch alles künstlich ist. Und uns Airbag und Aspirin vor der grausamen Natur schützen.
Das wirkt bis in die Kinderwunschkliniken nach. Im Wartezimmer war ich meist die Einzige, die nicht als Zweierpack da war, in jenem Jahr legten dort nur elf Frauen ihre Eier auf Eis. Die anderen Frauen sassen mit ihren Männern auf den Ledersesseln und guckten in die Luft. Die Atmosphäre war tötelig. Einmal versuchte ich Blickkontakt mit einer Frau aufzunehmen, ich wollte sie anlächeln. Sie schaute sofort weg. Als läge etwas Ungehöriges in dem, was wir taten. Dabei hatte sie mir doch etwas voraus. Sie war hier, weil sie mit dem Veja-Schuh-Mann neben ihr eine Familie plante. Ich hingegen sorgte für eine Zukunft vor, die sich vielleicht gar nie verwirklichen würde. Das tat weh.
Stechen ist nicht lustig
Die Szene vergass ich bald, ich hatte zu tun. Die Hormon-Injektionen standen an, sie sollten die Reifung der Eibläschen ankurbeln. Zusammen mit den unzähligen Ultraschalluntersuchungen, um den Vorgang zu überwachen, ergab das einen Vollzeitjob. Ich nahm Ferien dafür.
Jeden Morgen sass ich nun an meinem Küchentisch. Die Stecherei war elend, ich bemitleidete mich erst ein bisschen selbst und packte dann die Spritze aus. Ich öffnete ein Glasfläschchen mit einem Pülverchen drin, spritzte ein Lösungsmittel dazu, zog das aufgelöste Pulver mit der Spritze auf und steckte eine feinere Nadel drauf. Klemmte dann die Haut am Bauch zwischen Daumen und Finger und stach zu. Beim ersten Mal kam ich nicht gleich durch die Haut, ich war zu zögerlich. Tag drei hatte ich die Stechscheu überwunden. Tag sieben schimmerten kleine gelbliche Blutergüsse auf meinem Bauch. Und nach etwa zwei Wochen setzte ich die Spritze, mit der ich den Eisprung auslöste. Alles ohne Nebenwirkungen. Oder doch nicht ganz?
In jener Zeit blickte ich auf mein Leben, meine Entscheidungen. Ich hatte lange studiert, zu lange? Ich arbeitete gerne hochprozentig, zu ambitioniert? Ich war zwei Jahre im Ausland gewesen, zu Fomo (die Angst, etwas zu verpassen)? War ich zu viel Generation Y und zu wenig Boomer? Ich hinterfragte mich, die Frau, die ihre Eier weglegte. Und das war, wie ich heute weiss, verständlich. So blickte die Gesellschaft auf mich.
Mitte der 10er-Jahre war Social Freezing zum ersten Mal breit Thema. Anlass waren Techriesen wie Apple und Facebook, die ihren Mitarbeiterinnen die Behandlung zahlten. Heute tun das ein Fünftel der grossen US-Firmen, wie das internationale Beratungsunternehmen Mercer erhoben hat. In der Schweiz bleibt die Pharmafirma Merck bislang alleine damit. Doch das Narrativ, das solche Initiativen füttern, hält sich auch bei uns hartnäckig: jenes der egoistischen Frau, die das Kinderkriegen aus Karrieregründen auf später vertagt.
Mythos karriereversessene Frau
Ist das wirklich wahr? Ich frage eine Koryphäe auf dem Gebiet: Marcia Inhorn, Anthropologieprofessorin der renommierten Yale University. Sie hat das Buch «Motherhood on Ice» (auf Deutsch: Mutterschaft auf Eis) geschrieben, vor kurzem hielt sie eine Online-Vorlesung an der Universität Zürich. Ich erreiche die Frau mit den kastanienbraunen Locken auf ihrem Sofa in Connecticut (USA), sie sagt über Videocall: «Bei den allerwenigsten Frauen stehen Karrieregedanken dahinter.» Die karriereversessene Frau, die ihre biologische Uhr austricksen will – also doch bloss ein Mythos.
Die Forscherin führte lange Interviews mit 114 Amerikanerinnen, die ihre Eizellen aus nicht medizinischen Gründen auf Eis gelegt hatten. Im Schnitt waren sie 37 Jahre alt. 80 Prozent waren zum Behandlungszeitpunkt single. Der Rest hatte einen Partner, der aber (noch) keine Kinder wollte. Oder sie glaubten, die Beziehung sei zu instabil. Nur eine Frau sagte, dass sie ihre Familienplanung aufschob, weil sie ein Start-up gründen wollte. Marcia Inhorn sagt: «Die meisten Frauen kauften sich Zeit für die Suche nach einem passenden Vater.»
Weltweit drängen immer mehr Studentinnen an die Unis. Sie wollen Partner auf Augenhöhe, gut ausgebildet, ähnlich alt, sagt sie. Doch genau diese achten weniger auf Bildung als auf Attraktivität. Mehr noch, wie sie sagt: «Viele Männer sind schnell eingeschüchtert.» Eine Interviewpartnerin berichtete von einem gut laufenden Rendez-vous, bis der Mann irgendwann zu ihr nach Hause kam und ihre Eigentumswohnung, ihre teuren Möbel sah. Gekauft von ihrem Spitzenlohn. Danach habe er sie abblitzen lassen. Hinzu komme, sagt Inhorn: Männer täten sich immer schwerer, sich zu binden, eine Familie zu gründen. All das führt zu einem Phänomen, das die Forscherin als «Mating Gap» bezeichnet – «Paarungslücke». Ich passte ins Schema.
36 Stunden nach meiner letzten Spritze war ich so weit. Ich lag im Operationssaal. Alles ging schnell. Ein Arzt betäubte meinen Unterleib. Seine Kollegin arbeitete sich mit dem Ultraschallstab zum Eierstock vor, stach die reifen Eibläschen an und saugte mit einer hohlen Nadel vorsichtig die Flüssigkeit mit den Eizellen ab. Kurz darauf lag ich im Aufwachraum. Zu Hause hatte ich Blutungen, heftige Krämpfe sogar. Doch nicht lange.
Nach einigen Tagen lag der Brief von der Klinik im Briefkasten. Ich las hastig, suchte nach einer Zahl und fand sie bald: 14 Eizellen, so viele lagern jetzt bei minus 196 Grad in flüssigem Stickstoff. 14 war gut! Besser als vier, fünf oder sechs, ich kenne Frauen, denen das zu schaffen machte. Doch die Ärztin meinte: 20 Eizellen wären besser. Für eine Mittdreissigerin lagen damit laut Statistiken die Chancen auf ein Kind bei etwa 75 Prozent. Sie empfahl eine zweite Runde. Ich winkte ab. Die Behandlung war mir zu teuer, zu anstrengend.
Für mich war meine Ausbeute ein Triumph. Und plötzlich war da noch ein anderes Gefühl, das eigentlich nur Männer kennen: Ich kam mir wie ein Super-Macho vor. Fühlte mich stark. Und potent. Beim nächsten ersten Date mit einem Mann sprach ich irgendwann über meine 14 Eier. Ich gab ein bisschen an damit, und er lachte. Er fand mich witzig. Heute sind wir ein Paar.