Auf einen Blick
- Eileen Gray kannte keine Geldsorgen
- Der rumänische Architekt Jean Badovici ermutigte Eileen Gray, ein Haus zu bauen, später kam es zum Vertrauensbruch
- Dem dominanten Gebaren von Le Corbusier konnte sie nichts entgegensetzen
Als Eileen Gray (1878–1976) gecancelt wurde, existierte dieses Wort im deutschen Sprachgebrauch noch gar nicht. Ebenso wenig gab es den Begriff Mansplaining, als Männer in das Werk von Eileen Gray eingriffen und es «verbesserten», wie sie meinten. Das heisst aber nicht, dass die Designerin und Architektin selbst dieses übergriffige Verhalten nicht anprangerte. Nur: Ihre Kritik fand kein Gehör.
Der doku-fiktionale Architekturfilm «E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer» erzählt die Geschichte einer jahrzehntelang vergessenen Designerin und Architektin. Regisseurin Beatrice Minger (44) und Co-Regisseur Christoph Schaub (66) drehten an Originalschauplätzen in Frankreich und stellten Szenen auf einer Theaterbühne in Basel nach.
Statt Le Corbusier ist Gray im Fokus
Eigentlich sollte ein Film über den schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier (1887–1965) entstehen. Doch als Minger die Geschichte vom Haus am Meer erfuhr, war sie fasziniert – und schrieb ein Drehbuch für einen Film über Eileen Gray, in dem Le Corbusier eine unrühmliche Rolle spielt.
Doch der Reihe nach.
Eileen Gray wurde im katholischen Irland geboren. Ihr Vater war Maler, ihre Mutter stammte aus einem Adelsgeschlecht. Als eine der ersten Frauen schrieb sich Gray an einer Londoner Kunstschule ein, zog aber bald nach Paris, die kreativste Metropole ihrer Zeit. Die Datenbank Fembio beschreibt Gray als scheu und zurückhaltend. Dennoch ging sie mutig ihren Weg. Als einer der ersten Menschen – geschweige denn Frauen – in Frankreich fuhr sie Auto.
Unkonventionell auch ihr Privatleben: Sie hatte Liebschaften mit Frauen und Männern, lehnte eine Heirat ab und blieb kinderlos. Dank regelmässiger Überweisungen von ihrer Mutter lebte sie frei von finanziellen Sorgen und konnte sich künstlerisch entfalten.
Nach dem Ersten Weltkrieg entsprach der Zeitgeist dem mondänen Wesen Grays: Die alte Welt war zusammengebrochen – nun galt es, eine neue zu erfinden. Die 1920er-Jahre, die sogenannten verrückten Jahre, «les années folles», waren das Jahrzehnt von Art déco, Surrealismus, Kabarett und Kaffeehauskultur. In Paris traf die amerikanische Avantgarde auf europäische Künstler wie Dalí und Picasso. Anfang der 20er-Jahre war Eileen Gray mit der Chansonsängerin Damia (1889–1978) liiert. Es ist überliefert, dass die beiden in einem offenen Sportwagen über die Boulevards rasten, auf dem Rücksitz Damias Haustier, ein Panther.
Gray machte sich einen Namen als Gestalterin von Innenräumen für prominente Kundschaft. Ihr Anspruch war es, «neue Möbel für den neuen Menschen» zu schaffen.
Sie designte Objekte wie die berühmte Pirogue Chaise Longue, die im Moma in New York zu sehen ist; als Lackkünstlerin schuf sie beispielsweise den Raumtrenner Brick Screen, der glänzendes Möbelstück und Skulptur zugleich ist.
Gray wurde als Designerin zur Architektin
Der Film «E.1027» beleuchtet ihr Leben vor allem in jener Phase, als es durch die Bekanntschaft mit Jean Badovici (1893–1956), einem rumänischen Architekten und Herausgeber einer wichtigen Architekturzeitschrift, eine Wende nahm: Er ermutigte sie, ein Haus zu bauen.
Just 1929, im selben Jahr, in dem die britische Schriftstellerin Virginia Woolf in ihrem Essay «A Room of One's Own» festhielt, dass Frauen neben materieller Sicherheit auch ein eigenes Zimmer bräuchten, um sich künstlerisch entfalten zu können, war Grays erstes Haus bezugsfertig.
Es steht in Roquebrune-Cap-Martin (F) östlich von Monte Carlo an der Côte d’Azur. Sie nannte es E.1027. Ein kryptischer Name als Liebescode: Das E steht für Eileen, 10 für J, den zehnten Buchstaben im Alphabet, 2 für B, 7 für G. Zwar hatte sie das Haus für einen Mann (Badovici) entworfen, der gesellig ist und Sport treibt. Aber sie hoffte, dass es ein Zuhause für sie beide sein würde.
Grays modernistisches Haus mit den dunkelblauen Segeltuchmarkisen erinnert an ein Schiff, platziert ist es an einem terrassierten Hang zwischen der Brandung und einer Zuglinie – Eileen Gray gefiel es, dass ihr Refugium nicht einsehbar und abgeschieden war. «Entrez lentement», treten Sie langsam ein, steht an der Hauswand neben dem Eingang.
Gray entwarf auch die Inneneinrichtung für ihr erstes Haus. Zum Beispiel den ikonischen «Adjustable Table E 1027» als Beistelltisch für das Frühstück im Bett. Oder den Transat-Stuhl, inspiriert von den Liegestühlen auf Ozeandampfern.
Die 51-jährige Gray verstand ihr Haus als organische Hülle, die den Menschen sanft umschliessen und schützen sollte. Ein Verständnis, das dem architektonischen Zeitgeist diametral entgegenstand. Der gefeierte Le Corbusier ging nach der Formel «Das Haus ist eine Maschine» ans Werk. Regisseurin Minger erklärt: «Während Gray von innen nach aussen schaut, blickt Le Corbusier von aussen auf das Haus. Er sieht Formen und Linien und will mithilfe der Mechanisierung und Industrialisierung standardisiert bauen.»
Während ihr Haus für sie ein Ort des Rückzugs und des kreativen Schaffens im Sinn Virginia Woolfs war, liebte es Badovici, Künstlerfreunde aus aller Welt zu empfangen. Da die ständigen Besuche Gray von ihrer Arbeit abhielten, verliess sie ihr Haus und Badovici nach zwei Sommern. Sie sollte nie zurückkehren.
Zwei Männer zerstören E.1027
Badovici, auf dessen Namen Gray das Grundstück eingetragen hatte, blieb in E.1027. Auch Le Corbusier war dort zu Gast. Er war begeistert und lobte Grays Arbeit in einem Brief.
Doch dann kam es zum Vertrauensbruch: Badovici lud Le Corbusier dazu ein, Wände des Hauses mit Fresken zu bemalen. Wände, die Gray bewusst als weisse Flächen konzipiert hatte, übermalte dieser – nackt, wie Fotografien belegen – 1938 und 1939 mit bunten, abstrahierten, teils obszönen Frauenfiguren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sah Gray in einer Zeitschrift, was mit E.1027 geschehen war. In einer Szene, die auf einer kargen Bühne gedreht wurde, ist zu sehen, wie sie reagiert: heftig. Gray empfand die Fresken als «Akt der Gewalt, als Vandalismus – als Vergewaltigung».
Für Regisseurin Minger steckt in diesem Zitat, das aus einer Biografie stammt, ein wahrer Kern: Gray habe ein sehr emotionales Verhältnis zu den Häusern gehabt, die sie bewohnte. Der Mensch stand für sie immer in Beziehung zum Raum und umgekehrt. «Eine Verletzung des Hauses empfindet sie als persönlichen Übergriff.»
Doch Le Corbusier liess sich nicht beirren. Ein weisser Kubus sei ideal, um bemalt zu werden, da gebe es nichts zu korrigieren, lehnte er ihre Forderung ab, die Fresken zu entfernen. Doch die beiden Architekten waren sich des Übergriffs bewusst: Die kräftigen Farben schluckten das Licht, nach dem das Haus ausgerichtet ist. «Die Malerei zerstört die Architektur», sagt Badovici im Film. Aber auch er sorgte nicht dafür, dass das Werk seiner einstigen Geliebten wiederhergestellt würde.
Gray musste sich damit abfinden, dass sie dem dominanten Gebaren der Männer nichts entgegensetzen konnte, dass sie ihr erklärten, wie die Welt zu sein hatte. Heute würde solches Verhalten als Mansplaining verspottet und entlarvt. Vor 80 Jahren gab es keinen Aufschrei. Und als Le Corbusier sich mit seinen Fresken fotografieren und in der Fachliteratur dafür feiern liess, korrigierte er es nicht, als auch das Haus ihm als Architekt zugeschrieben wurde. Darüber gerieten Eileen Grays Leistungen in Vergessenheit.
Die physische Aneignung von E.1027 durch Le Corbusier markierte dieser noch mit dem Bau seines Sommerhäuschens Le Cabanon in unmittelbarer Nachbarschaft im Jahr 1951. Eileen Grays abgeschiedenes Refugium war damit zerstört. Le Corbusier hatte Gray ausgelöscht, gecancelt.
Erst Ende der 1960er-Jahre sorgte ein Architekt für die Wiederentdeckung der Avantgardekünstlerin. Gray, inzwischen um die 90 Jahre alt, erlebte noch das neue Interesse an ihrem Werk, erste Retrospektiven in London und New York zogen ein grosses Publikum an. Einige ihrer Designs, etwa der «Adjustable Table E 1027» gingen in Serienproduktion. Doch erst nach ihrem Tod wurde ihre Bedeutung als eine der wichtigsten Designerinnen und Architektinnen des frühen 20. Jahrhunderts erkannt.
Gray widersetzte sich patriarchalen Spielregeln
Eileen Grays Geschichte wiederholt damit das Narrativ der Leben vieler Künstlerinnen, deren Werk zu Lebzeiten im Schatten ihrer Partner oder Kollegen stand und erst posthum Anerkennung für seine Bedeutung erhielt.
Doch Gray habe sich auch bewusst dem patriarchalen Kunst- und Architekturbetrieb entzogen, bei dem es um das Erlangen von Öffentlichkeit geht, um Macht und Status, wie Beatrice Minger erklärt. «Eileen Gray war eine sehr konsequente Non-Konformistin.» Dadurch habe sie sich eine Freiheit bewahrt, ihre Energie ganz ihrer Kunst zu widmen. «Sie hat mit ihrem Werk diesem Betrieb etwas entgegengesetzt – eine andere Sensibilität, einen anderen Blick auf die Welt. Eine Kunst und Architektur, die so vor ihrer Zeit war, dass sie noch heute zu uns spricht.»
Lange nach ihrem Tod, im Jahr 2009, stand Eileen Gray plötzlich im Rampenlicht: Ihr «Fauteuil aux dragons» (1917–1919) erzielte bei einer Auktion von Christie’s einen Rekordpreis. Der Drachensessel aus der Sammlung des verstorbenen Modeschöpfers Yves Saint Laurent (1936–2008) war einem Käufer 22 Millionen Euro wert.
Beatrice Minger und Christoph Schaub, «E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer», ab 28. November im Kino