Auf einen Blick
- Die Performance-Künstlerin Marina Abramović geht mit ihrer Kunst oft ins Extreme
- Das Kunsthaus Zürich zeigt nun erstmals eine Retrospektive der Künstlerin
- Performance «Rhythm 0» dauerte sechs Stunden
Jüngst brachte sie 200'000 Menschen zum Schweigen. Sieben Minuten lang. Die Rede ist von der selbst ernannten «Grossmutter der Performance-Kunst»: Marina Abramović (77). Am diesjährigen Glastonbury Festival in England forderte sie das Publikum dazu auf, mit den «Seven Minutes of Collective Silence» die Energie des Universums zu spüren und gegen Kriege und Gewalt zu schweigen.
Das Schweigen ist ein zentrales Element in Abramovićs Kunst. Sie, die 1946 in Jugoslawien geboren ist, sagte einst, dass ihre Kindheit von Kontrolle, Disziplin und Gewalt geprägt war. Vielleicht überliess sie die Kontrolle deswegen immer wieder ihrem Publikum, während sie passiv schwieg. Oftmals ging sie als Künstlerin an körperliche und psychische Grenzen und sah sich immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob das nun Kunst sei.
Das kann man jetzt selbst beurteilen: Ab kommender Woche zeigt das Kunsthaus Zürich die erste grosse Retrospektive der Künstlerin in der Schweiz. Zeit, sich mit ihren bekanntesten Werken auseinanderzusetzen.
Rhythm 5, 1974
Mit den «Rhythm»-Performances erlangte Marina Abramović in den frühen 70er-Jahren internationale Bekanntheit. Darin setzte sie sich mit Themen wie Machtverhältnisse und Kontrolle, aber auch Spiritualität und Ritualen auseinander. Die Performance «Rhythm 5» ist eine der bekanntesten aus der Serie. In einem studentischen Kulturzentrum in Belgrad legte Abramović 1974 einen Stern aus Holz auf den Boden, übergoss ihn mit Öl und zündete ihn an. Sie warf zunächst Haarbüschel, abgeschnittene Finger- und Fussnägel von sich ins Feuer, dann legte sie sich ins Innere des Sterns auf den Boden. Wegen des Feuers bekam sie zu wenig Sauerstoff und verlor das Bewusstsein. Erst als die Flammen ihr Bein berührten, bemerkte das Publikum, dass sie in Gefahr war, und trug sie aus dem brennenden Stern. Später erklärte Abramović, dass die Erkenntnis, dass es physische Grenzen gibt, sie wütend machte. «Wenn man das Bewusstsein verliert, kann man nicht anwesend sein, man kann nicht auftreten.»
Rhythm 0, 1974
Auch die sechsstündige Performance «Rhythm 0» aus der Serie erregte Aufsehen. Abramović stand sechs Stunden lang passiv in der Galerie Studio Morra in Neapel. Das Publikum durfte die 72 Objekte, die auf einem Tisch lagen, nach Belieben an ihrem Körper verwenden. Darunter waren eine Feder, Stifte, eine Rose, aber auch Rasierklingen und eine Pistole. Indem Abramović die Macht in die Hände des Publikums legte, wollte sie die Trennung zwischen Künstlerin und den passiven Zuschauenden infrage stellen. Die Performance begann zahm, wurde jedoch immer aggressiver. Nach einigen Stunden wurden Abramović ihre Kleider vom Leib geschnitten. Das Publikum berührte sie. Ein Besucher schnitt ihr mit einer Rasierklinge in den Hals und trank ihr Blut. Jemand drückte ihr die Pistole in die Hand und legte ihren Finger auf den Abzug, um zu schauen, ob die Künstlerin reagieren würde. Einige der Besucherinnen versuchten aber auch, sie zu beschützen, oder wischten ihre Tränen weg. Abramović sagte nach der Performance: «Wenn man dem Publikum die komplette Kontrolle überlässt, dann kann es dich töten. Ich fühlte mich geschändet.»
Imponderabilia, 1977
In «Imponderabilia» bildeten Abramović und der Künstler Ulay, ihr damaliger Partner, eine Art Tür. Sie standen nackt im Eingang der Galleria Comunale d’Arte Moderna in Bologna und schauten sich an. Die Besucherinnen und Besucher mussten sich seitlich gekehrt zwischen ihnen hindurchzwängen, um einzutreten. Das Künstlerpaar blieb währenddessen völlig regungslos. Aufnahmen zeigen, wie die Besuchenden bemüht waren, geradeaus zu schauen und den Körperkontakt auf ein Minimum zu reduzieren.
The Lovers – Great Wall Walk, 1988
Eigentlich hätten Abramović und Ulay mit «The Lovers» ihre Liebe besiegeln wollen: 1983 kündigten sie an, über die Chinesische Mauer wandern zu wollen. Sie würde die Wanderung vom einen, er vom anderen Ende der Mauer beginnen. In der Mitte wollten sie sich treffen, um zu heiraten. Nach langen Verhandlungen mit der chinesischen Regierung war es am 30. März 1988 schliesslich so weit: Abramović und Ulay brachen auf und liefen während 90 Tagen je über 2000 Kilometer aufeinander zu. Nur: Die Performance diente nicht mehr dazu, ihre Liebe zu feiern, sondern wurde zur Inszenierung ihrer Trennung. Sie trafen auf einem Bergpass an einem buddhistischen Tempel zusammen und trennten sich. Es war ein Abschied, der das Ende ihrer privaten und beruflichen Beziehung markierte. Sie würden sich während 22 Jahren nicht mehr sehen.
Balkan Baroque, 1997
An der 47. Biennale in Venedig 1997 hätte Abramović eigentlich Serbien und Montenegro – die letzten verbleibenden jugoslawischen Republiken – vertreten sollen. Stattdessen stellte sie unter dem internationalen Kurator-Pavillon aus. Mit gutem Grund: Eine in weissem Overall gekleidete Abramović sass inmitten eines Haufens von 1500 blutbeschmierten Rinderknochen. Sechs Stunden pro Tag über vier Tage hinweg schrubbte die Künstlerin die Knochen mit Wasser und einer Bürste und sang jugoslawische Volks- und Totenlieder. Diese Performance war Abramovićs Antwort auf den Krieg in ihrer Heimat Jugoslawien. Das Werk thematisierte die Gewalt und die Unmöglichkeit, die Spuren des Kriegs wegzuwaschen. «Balkan Baroque» wurde mit dem Goldenen Löwen der Biennale ausgezeichnet.
The Artist Is Present, 2010
2010 zeigte das Museum of Modern Art (MoMa) in New York «The Artist Is Present», eine Retrospektive von Abramovićs Werk. Im Rahmen der Ausstellung steuerte die Künstlerin auch eine neue Performance bei, mit der sie einen ihrer grössten Erfolge feierte: Während drei Monaten, sechs Tage in der Woche, sieben Stunden am Stück sass sie schweigend und regungslos auf einem Stuhl und blickte den Personen, die ihr gegenüber Platz nahmen, in die Augen. Sie machte keine Pause, ass nicht, trank nicht und ging nicht auf die Toilette. Der Andrang war riesig: 750'000 Besucherinnen und Besucher zählte die Ausstellung, und vor dem Museum bildeten sich lange Schlangen. Der gleichnamige Dokumentarfilm, der 2012 erschien, zeigt, wie die Gesichter der Menschen, die Abramović gegenübersitzen, sich verändern. Sie lächeln, weinen, schauen skeptisch. Der wohl unvergesslichste Moment der Ausstellung: Als Abramovićs Ex-Partner Ulay am Eröffnungsabend erschien und ihr gegenüber Platz nahm. Das erste Mal seit 22 Jahren schauten sie sich in die Augen, die sich mit Tränen füllten. Es war das einzige Mal während der ganzen Ausstellung, dass Abramović die Fassung verlor. Sie streckte ihre Arme aus, lächelte und ergriff seine Hände.
«Marina Abramović – Retrospektive» vom 25. Oktober 2024 bis am 16. Februar 2025 im Kunsthaus Zürich.