Auf einen Blick
- Kunstwerke in Vevey VD und Basel überwältigen mit ihrer Grösse
- 3D-Druck und neue Techniken ermöglichen riesige Kunstwerke
- Fotografie auf 1000 Quadratmetern, über neun Meter grosse Skulpturen
Eismeer statt Genfersee: Wer dieser Tage in Vevey VD aus dem Zug steigt, vor den Bahnhof tritt und Richtung Lac Léman schaut, wähnt sich am falschen Ort. Vis-à-vis an der Fassade der Waadtländer Kantonalbank prangt ein gigantisches Abbild des Aletschgletschers, rund 25 Meter breit und 20 Meter hoch. Der grösste Gletscher statt das grösste Gewässer der Schweiz – als wäre man in den Walliser Bergen.
«Aletschgletscher» (1993) ist das Werk des deutschen Fotokünstlers Andreas Gursky (69), der für grossformatige Bilder berühmt ist – dieses misst im Original 1,79 auf 2,15 Meter. Für die 9. Ausgabe der Biennale «Images Vevey», die am Samstag eröffnet hat, vergrösserte man es fast 130-mal und druckte es auf Planen. Bis Ende Monat sind über die ganze Stadt 50 fotografische Installationen verteilt. Mit 1000 Quadratmetern ist die Fotografie «Belle-Époque» (2024) des Dampfschiffs La Suisse vom Schweizer Vincent Jendly (55) auf der Fassade des Nestlé-Hauptsitzes doppelt so gross wie der «Aletschgletscher».
Durch Grösse fällt man mehr auf
Gross, grösser, am grössten: Kunst platzt aus allen Nähten und Museen und nimmt unter freiem Himmel immer mehr Raum ein. Diesen Befund belegen aktuell auch andere Ausstellungen in der Schweiz – etwa die Videoinstallation «Calls for Action» (2024) des Schweizer Künstlers Julian Charrière (36) auf dem Marktplatz in Basel oder die Triennale der Skulpturen im Kurpark von Bad Ragaz SG.
Charrière bietet auf einem riesigen Bildschirm vor dem im Umbau befindlichen Globus-Gebäude eine Live-Schaltung zwischen Basel und dem Nebelwald in den ecuadorianischen Anden. Und in Bad Ragaz liegen meterlange Zitronen von der deutschen Künstlerin Irene Hoppenberg (73) vor einer Blutbuche («Mein Traum vom Süden», 2001) oder meterhohe Schokoküsse der spanischen Künstlerin Aletheia Kí Zoeÿs (24) auf der Parkwiese («Illusionary Silence», 2024).
Die unübersehbaren Werke lassen niemanden still. Angesichts solcher Kunst fühlt sich das Publikum klein und ist überwältigt: Die wandgrossen Einblicke in Alpen und Anden machen demütig gegenüber der Natur, die überdimensionierten Lebensmittel ringen wegen der Verblüffung ein Lächeln ab. Kunst, die berührt und bewegt. «Das neue Stilmittel ist die Grösse», schrieb die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» («FAZ») bereits vor zehn Jahren. «Es kann gar nicht gross genug sein.» Und seither ist alles noch gewachsen.
Das hat viel mit der Entwicklung der Herstellungstechniken zu tun: Skulpturen, die früher gar nicht machbar waren, lassen sich heute mit dem 3D-Drucker bilden; Kunstdrucke, die einst limitiert waren, können jetzt ins Unermessliche ausufern. Aber noch mehr hat es mit dem übersättigten Kunstmarkt zu tun, auf dem alle um Aufmerksamkeit heischen und auffallen wollen – durch Grösse kann man sich da absetzen.
Ziel für Zerstörungen
«Gemälde und Fotografien sind auf Formate angeschwollen, die Firmenlobbys mühelos ausfüllen», steht in der «FAZ» weiter. «Skulpturen werden mit Sattelschleppern bewegt und mit Kränen montiert.» Eine Entwicklung, die sich seit der Jahrtausendwende verstärkt hat. So entstand die über neun Meter hohe Spinnenplastik «Maman» von der französisch-amerikanischen Künstlerin Louise Bourgeois (1911–2010) im Jahr 1999 – das Werk ist heute vor einigen Museen zu finden.
Gewiss, bereits früher war Klotzen statt Kleckern angesagt. Aber ohne die technischen Hilfsmittel waren die menschlichen Opfer enorm und der Output minim – aus der Vergangenheit stechen ein paar wenige Monumentalwerke hervor. Zu denken ist da an die über 70 Meter lange und 20 Meter hohe Sphinx von Gizeh in Ägypten (um 2500 v. Chr. erschaffen) oder die Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan (um 550 n. Chr.), deren grösste 53 Meter in die Höhe ragte.
Während ein strenggläubiger Scheich im Jahr 1378 der Sphinx die Nase abschlug, sprengten die Taliban 2001 die Buddha-Statuen in ihren Steinnischen kurzerhand – heute klaffen dort leere Höhlen, wo die Riesenplastiken aus der Felswand gehauen waren. Die Beispiele zeigen: Je grösser ein Kunstwerk im öffentlichen Raum in Erscheinung tritt, desto einfacher kann es Ziel für Zerstörung sein.
Dieses Schicksal ereilte auch die erste Monumentalstatue der Renaissance, die mit ihren über fünf Metern Höhe ein Goliath ist, aber David heisst: 1504 vom italienischen Künstler Michelangelo Buonarroti (1475–1564) aus edlem Carrara-Marmor gehauen, war David draussen auf der Piazza della Signora in Florenz platziert. 1527 flog eine Sitzbank aus dem benachbarten Palazzo Vecchio und traf seinen linken Arm, der in drei Stücke zerbrach – erst Jahre später kam es zu einer Restaurierung.
Weltweit grösste Bodenskulptur in Uster
Nicht nur Wut, auch Witterung setzte dem Gestein zu, sodass die florentinische Stadtregierung 1873 beschloss, David nach einigen Hundert Jahren draussen in die Galleria dell’Accademia zu zügeln. Wer wie David auf grossem Fuss lebt, der braucht weitläufigen Raum. Das war wegweisend: In der Folge entstanden weltweit hallige Kunsttempel für hehre Werke – so das Metropolitan Museum of Art in New York, die National Gallery in London oder das Pergamon-Museum in Berlin, das einen monumentalen Altar beherbergt.
Dimensionen, die für die weiter wachsende moderne Kunst nicht mehr reichen. Deshalb schuf US-Architekt Frank Gehry (95) 1997 im Guggenheim-Museum der nordspanischen Stadt Bilbao einen eigentlichen Hangar und liess dort acht Skulpturen «Matter of Time» (2003) aus wetterfestem Stahl von US-Künstler Richard Serra (1938–2024) landen, worin sich das Publikum wie in Labyrinthen verlieren kann – gigantisch!
Die «weltweit grösste Bodenskulptur» – «The 2000 Sculpture» (1992) vom US-Künstler Walter de Maria (1935–2013) – ist seit 2022 in Uster ZH zu bestaunen. Die Bechtler Stiftung liess für dieses Werk aus 2000 Gipsteilen eigens einen 50 mal 10 Meter grossen, säulenlosen Raum mit Fensterfront und Oberlicht errichten, denn der Bildhauer bestand darauf, dass die Stiftung «The 2000 Sculpture» nur bei Tageslicht präsentiere. Am liebsten hätte er wohl unter freiem Himmel ausgestellt. Aber eben: zu gefährlich!
Um dem Platzbedarf gerecht zu werden, bauen Museen nicht nur neu, sondern nutzen stillgelegte Industrieanlagen. Das Schweizer Architekturbüro Herzog & de Meuron machte 2000 in London aus einem Kraftwerk die Tate Modern, in dessen ehemaliger Turbinenhalle der isländisch-dänische Künstler Ólafur Elíasson (57) für sein «Weather Project» 2003 eine riesige Sonne aufgehen liess – in der 35 Meter hohen Halle könnte glatt Gurskys «Aletschgletscher» dahinschmelzen.
9. Biennale «Images Vevey» vom 7. bis 29. September in Vevey VD;
Videoinstallation «Calls for Action» von Julian Charrière bis 6. Oktober auf dem Marktplatz, Basel;
9. Triennale der Skulpturen «Bad Ragartz» bis 30. Oktober in Bad Ragaz SG