Auf einen Blick
- Harald Naegeli wurde in Zürich geboren und ist für seine Graffitis bekannt
- Seine Werke entstanden ab 1977 jeweils in der Nacht
- 1981 wurde er zu neun Monaten Haft verurteilt
- 2017 stand er erneut vor Gericht
Nach einem Handgemenge bei einer Hausecke an der Sonneggstrasse verliert er in der mondhellen Nacht zum 12. Juni 1979 seine Brille. Unter Tageslicht jenes frühsommerlichen Dienstags sucht der «Sprayer von Zürich» nach ihr – und stösst auf einen Detektiv, der den «Schaden» an der versprayten Wand der ETH aufnimmt. Harald Naegeli lässt sich ohne Widerstand auf den Polizeiposten führen.
Diese Anekdote steht in der eben erschienenen Biografie über den heute 85-jährigen Naegeli. Der Autor und frühere «Tages-Anzeiger»-Chefredaktor Res Strehle (73) zeichnet in «Nur fliegen kann er nicht» kenntnisreich und kunstfertig das Leben von Naegeli nach – von der Kindheit am Zürichberg bis zur Flucht nach Düsseldorf (D), vom lokalen «Schmierer» bis zum «etablierten Künstler von internationalem Rang».
Naegeli war weltberühmt, bevor er sich einen Namen machte: In der Anonymität der Nacht sprayte er ab 1977 meist in schwarzer Farbe drahtige Figuren an Wände, oft in witzigem Kontext zu einem Gegenstand in der Umgebung – sei es ein angelehntes Velo, ein abstehender Briefkasten oder ein aufgeschraubtes Schild. Die ersten Werke erschienen an der Schmelzbergstrasse in der Nähe seines Elternhauses.
Harald Naegeli interessierte sich nur fürs Zeichnen
Harald Oskar Naegeli kam 1939 als ältester von vier Brüdern im vornehmen Zürcher Quartier Fluntern zur Welt. Seine Mutter ist die norwegische Kunstmalerin Ragnhild Osjord Naegeli (1906–1973), sein Vater der Arzt und Parapsychologe Hans Naegeli-Osjord (1909–1997). Ein ungleiches Paar, wie Strehle in der Biografie schreibt: «Sie Anarchistin, er Grossbürger, sie Wikingerin, er Thurgauer.»
Dieses erstmalige Beleuchten der Vorfahren ist erhellend, weil es einiges über den Sprayer aussagt. «Sohn Harald hält das Andenken an seine Mutter zeitlebens hoch», so der Biograf. Ihr Nachname Osjord (zu Deutsch: unsere Erde) ist quasi das Motto seines frühen Engagements für Tier und Natur. «Sie hat ihm die Leidenschaft zur Kunst und zur Empörung vermacht, beides stand am Anfang seines Werkes.»
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Der junge Harald war ein widerspenstiger Schüler und nur am Zeichnen interessiert. «Rechnen? Schönschreiben? Disziplin? Das kümmert ihn nicht und nimmt seiner Fantasie bloss die Freiheit», schreibt Strehle. Das erste Schuljahr absolvierte Harald zweimal. Auch später, als er 1964 an der École des Beaux-Arts in Paris studierte, interessierte ihn der Unterricht weniger als die Originalzeichnungen im Louvre.
Später entdeckte er Farbspraydosen, war fasziniert von «geschossenen» Linien mit ausufernden Rändern. «Ich begann mit Sprüchen, aber das war mir zu wenig», erzählt Naegeli dem Biografen. «Dann plötzlich hatte ich die richtige Idee, ich musste die Zeichnungen auf Mauern, Hauswände und Kirchen übertragen. Mit diesen Figuren entstanden das Unfassbare, das Rätsel und letztlich das Geheimnis.»
Sachbeschädigung oder Wertvermehrung?
Bis am 12. Juni 1979 das Geheimnis gelüftet wurde. «‹Kunst› auf Kosten anderer» schrieb die «NZZ» ein paar Tage nach der Verhaftung des Sprayers. Am 30. Januar 1981 bezifferte das Bezirksgericht die «Schadenssumme» auf 101'524.60 Franken, und das Obergericht verurteilte Naegeli am 19. Juni zu neun Monaten Haft unbedingt, was das Bundesgericht im Dezember gleichen Jahres bestätigte.
Der Verurteilte flüchtete vor Haftantritt nach Deutschland und war dort ein gefeierter Künstler. Doch die Schweiz erliess einen internationalen Haftbefehl. «Der Sprayer muss sich bis zum 24. April 1984 der Schweizer Polizei stellen, andernfalls wird er in Deutschland zur Fahndung ausgeschrieben», steht in der Biografie. «Untertauchen ist für ihn keine Option.» Nach sechs Monaten Haft war er frei – und machte sich wieder ans Sprayen.
Naegeli gilt laut dem «Grossen Graffiti-Lexikon» als «wichtigster Initiator der europäischen Streetart». Das schützte ihn aber nicht vor erneuter Verfolgung: 2017 stand Naegeli vor dem Zürcher Bezirksgericht, wo der Staatsanwalt eine bedingte Geldstrafe von 189’000 Franken forderte – der Richter setzte das Urteil zugunsten eines Vergleichs aus. Naegeli forderte im Prozess eine Neuinterpretation des Begriffs «Sachbeschädigung».
Eine Sache sei nur beschädigt, wenn sie in ihrem Wert vermindert oder zerstört sei. Doch Naegelis Graffitis seien eine Wertvermehrung und erzielten im Kunsthandel Tausende von Franken. Strehle: «Es ist die Kränkung eines Schenkenden, dessen Geschenk beim Beschenkten nicht Freude, sondern Ärger oder gar Abscheu auslöst.»
Res Strehle: «Nur fliegen kann er nicht – Harald Naegeli, eine Biografie», Diogenes