Harald Naegeli rechnet nach Streit um seine Graffiti mit Zürich ab
«Das ist mein eigener Totentanz»

Kanton und Kunsthaus haben den «Sprayer von Zürich» wegen seiner Graffiti mit Strafanträgen eingedeckt – jetzt zieht das Museum seine Anzeige zurück. Doch diese Beziehung ist nicht mehr zu kitten.
Publiziert: 14.06.2020 um 00:02 Uhr
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Aktualisiert: 14.06.2020 um 12:11 Uhr
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Harald Naegeli ist dieses Jahr in die Schweiz zurückgekehrt.
Foto: Keystone
Reza Rafi

Gleich neben dem Haupt­eingang des Kunsthauses Zürich empfängt Auguste Rodins bronzenes «Höllentor» seit nunmehr 70 Jahren die Besucher – ein Gruss aus dem Jenseits.

Im April hat sich auf der Sandsteinfassade dahinter jemand hinzugesellt: ein hüpfendes Skelett mit erhobenen Armen, in seiner strichhaften Leichtigkeit der schiere Kontrast zum Monument. Und doch knüpft das Strichmännchen, als Element der Totentanz-Reihe, direkt an Rodins Hauptsujet an – das Inferno aus Dante Alighieris «Gött­licher Komödie».

Die Urheberschaft der morbiden Figur war schnell klar: Es war Harald Naegeli (80), der als «Sprayer von Zürich» zu Weltruhm gekommene Schweizer Künstler. Seit diesem Jahr ist er aus seinem Düsseldorfer Exil zurück, in das er einst vor der Schweizer Justiz geflüchtet war.

Die Geschichte hätte damit vorerst erzählt sein können. Doch das Kunsthaus entschied anders.

Strafanzeige wegen Sachbeschädigung

Der Stiftungsrat schickte Naegelis Tänzer in den Tod. Man liess das Graffito sowie drei weitere Naegeli-Geschöpfe von den Mauern entfernen. Die Kulturfunktionäre beliessen es aber nicht etwa bei der Aktion, nein: Sie schalteten kurzerhand die Justiz ein. Gegen den unziemlichen Alten ist diese Woche Strafanzeige wegen Sachbeschädigung erstattet worden.

Ein paar Strassenzüge weiter waren sie ebenfalls erschienen: Zwei Knochengestalten prangten an der Turnhalle eines Gymna­siums. Auch diese beiden mussten auf behördliches Geheiss das Zeitliche segnen. Das kantonale Immobilienamt hat ebenfalls Strafanzeige erstattet, wie der «Tages-Anzeiger» gestern zuerst berichtete.

Naegeli spricht von einer «un­geheuren Provokation». «Straf­anzeigen sind geistige Bankrotterklärungen von Menschen, die das Leben nicht begriffen haben», sagt er zu SonntagsBlick.

«Erinnerung an Corona-Kranke»

Die Graffiti an der Turnhalle seien «eine Erinnerung an die dort gelagerten Corona-Kranken». Hinzu kommt, dass das Gebäude dereinst sowieso einem Neubau von Herzog & de Meuron für das Unispital weichen soll.

Am Samstag dann die Wende. Richard Hunziker, Präsident der Stiftung Zürcher Kunsthaus, meldete sich: Man sei «nach reiflicher Überlegung» zum Schluss gekommen, den Strafantrag gegen Naegeli zurückzuziehen. Tags zuvor hatte es noch anders getönt. Die Anzeige sei erfolgt, so ein Sprecher, «nachdem in den letzten Jahren wiederholt Sprayereien von Herrn Nägeli (sic!) an Teile des Kunsthauses gelangten». Sie stehe «im Einklang mit der Anti-Graffiti-Strategie der Stadt Zürich». «Keineswegs» verkenne das Kunsthaus Naegelis «künstlerisches Talent».

Entgegekommen des Kunsthauses lässt Naegeli kalt

Ein Werk macht die Endlichkeit zum Thema und wird selbst zerstört – so etwas kann nur Kunst. In diesem Fall dank der tatkräftigen Mithilfe des Amtsschimmels. Naegeli schrieb am Donnerstag in einem E-Mail an mehrere Journalisten: «Mit der Vernichtung der Totentänze ehrt das Kunsthaus Zürich zähneknirschend meine Utopie, und mit der Strafanzeige zeigt es zugleich seine Ohnmacht und Verzweiflung vor der Freiheit der Kunst!» Das gestrige Ent­gegenkommen des Kunsthauses lässt ihn kalt – seine Werke sind zerstört. Er nennt es «Vandalismus».

In Zürich, wohin der gesundheitlich angeschlagene Naegeli heimgekehrt war, blickt er lachend seinem eigenen Lebens­ende entgegen. Es sei auch ein ganz persönlicher Totentanz, sagt er zu seinen jüngsten Werken. «Meinen Tod und den Tod jedermanns gestalte ich heiter und autonom, um solange als möglich die Schönheit des Lebens und der Kunst zu begreifen.»

«Ein Geschenk an jedermann»

Seine Kunst sei «ein Geschenk an jedermann, der Augen, Kopf und Herz hat. Es gilt für jedermann, den Barbar in sich zu besänftigen», sagt Naegeli weiter. «Besonders die Herren vom Kunsthaus und die vom Bauamt sind dazu aufgefordert.»

Auch die Zürcher Kirchenleute hält er auf Trab: Eine Inszenierung des «Danse Macabre» an den Mauern des Grossmünsters stockt wegen Meinungsunterschieden mit der Verwaltung.

Dass mit dem Kunsthaus Zürich ausgerechnet jene Institution Naegelis Werke vernichtet, deren Zweck die Pflege der Kunst ist, entpuppt sich als Zynismus der ganzen Geschichte.

Jetzt herrscht wieder Ordnung hinterm «Höllentor».

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