Auf einen Blick
- Das Kunsthaus Zürich zeigt erstmals eine Retrospektive der Künstlerin Marina Abramović
- Besucherinnen und Besucher durchqueren eine Tür aus nackten Körpern, um die Ausstellung zu betreten
- Die Retrospektive umfasst 55 Jahre von Abramovićs künstlerischem Schaffen
- 24 lokale Performerinnen und Performer stellen ihre Werke nach
Niemand kann sagen, dass er nicht gewarnt wurde, wenn er die Marina Abramović-Ausstellung im Kunsthaus Zürich besucht. «Bitte beachten Sie, dass die Ausstellung Nacktheit und Kunstwerke zum Thema Tod und körperlichem Schmerz enthält, die verstörend wirken können», steht auf der Wand links vor dem Eingang geschrieben.
Ersteres wird einem sofort klar: Im Türrahmen stehen zwei nackte Menschen. So nahe zusammen, dass man sich zwischen ihnen hindurchzwängen muss. Es ist eine Reinszenierung von «Imponderabilia», das die Performance-Künstlerin 1977 mit ihrem damaligen Partner, dem Künstler Ulay, in Bologna aufgeführt hatte. Wobei, wer will, kann auch eine Tür daneben benutzen. Ganz ohne nackte Menschen.
«Es ist heute nicht mehr möglich, Kunst zu machen wie in den 70er-Jahren», wird die Performance-Künstlerin (77) später an der Pressekonferenz sagen. «Entweder, ich mache einen Kompromiss, oder ich zeige meine Kunst nicht», so Abramović. Letzteres komme für sie nicht infrage. Deshalb gibt es in Zürich, anders als in Bologna, die zweite Tür: ein Kompromiss.
Andrang ist gross
Es ist nicht das erste Mal, dass Abramovićs Kunst in der Schweiz gezeigt wird. 1998 hatte sie eine Ausstellung im Kunstmuseum Bern. Das Kunsthaus Zürich zeigt nun aber die erste grosse Retrospektive der Künstlerin in der Schweiz. Sie umfasst 55 Jahre von Abramovićs künstlerischem Schaffen. 24 lokale Performerinnen und Performer, die aus über 800 Bewerbenden ausgesucht wurden, stellen ihre Werke nach.
Der Andrang sei gross, fast alle Veranstaltungen im Rahmen der Retrospektive seien ausgebucht, sagt Kunsthaus-Direktorin Ann Demeester (49). Zürich ist im Abramović-Fieber. Das zeigte sich auch einige Stunden zuvor. Kurz vor 10 Uhr, bevor die Ausstellung offiziell eröffnete, hatte sich eine Menschentraube von Medienschaffenden vor dem Eingang gebildet.
Neue Arbeit für Zürich
Wer die Retrospektive betritt, taucht in eine Welt voller Fotos, Objekte und Videoinstallationen ein. Einer der eindrücklichsten Räume ist ganz in Rot getaucht, «Communist Body» steht in weisser Schrift an der Wand. Abramović, die 1946 im ehemaligen kommunistischen Jugoslawien geboren wurde, liess sich in ihrer Kunst oft von ihrer persönlichen Biografie inspirieren. Im hinteren Teil des Raums liegt etwa ein Knochenhaufen – es ist eine Nachbildung ihrer Biennale-Performance «Balkan Baroque» (1997), eine Antwort auf den Krieg in ihrer Heimat. Nur, dass die Knochen keine Fleischreste dran haben – «In Venedig war das noch möglich», so Abramović.
Eigens für Zürich hat Abramović die «Decompression Chamber» kreiert. Die Besuchenden werden dazu aufgefordert, ihre Handys in einem Schliessfach einzuschliessen, sich Noise-Cancelling-Kopfhörer aufzusetzen und in den Liegestühlen, die bereitstehen, «in Stille zu verweilen». Sowieso wird das Publikum dazu angehalten, mit der Kunst zu interagieren. Sich hinzusetzen, unter Objekte zu stellen, sie zu berühren (nicht alle!).
So wie das Publikum eingangs durch ein Portal empfangen wurde, so wird es am Schluss durch ein Portal – aus Kristallen – entlassen. Und wer dann noch zu sich finden muss, kann an einem grossen runden Tisch Reiskörner von Linsen trennen. Und selbst zur Performerin oder zum Performer werden. Es ist die letzte Station vor dem Ausgang.
«Marina Abramovićs Kunst ist noch immer frisch und revolutionär», sagt Kunsthaus-Direktorin Demeester. Wie andere Kunsthaus-Mitarbeitende trägt sie an diesem Tag ein T-Shirt mit einem Abramović-Zitat: «Art is like oxygen». Kunst ist wie Sauerstoff. Und Abramović betont im Anschluss im Gespräch mit der Kuratorin Mirjam Varadinis nochmals: «Kunst ist wie Atmen. Ich wache auf, und will Kunst machen.»
«Marina Abramović – Retrospektive» vom 25. Oktober 2024 bis am 16. Februar 2025 im Kunsthaus Zürich.