Hätte Micha Häni (29) auf seinen Arzt gehört, wäre er heute kein Künstler. Im Jugendalter wurde bei ihm eine Farbsehschwäche festgestellt. Vor allem Rot-Grün, aber auch andere Farben, kann er nicht genau unterscheiden. «Ein visueller Job ist nichts für dich», sagte der Arzt.
Es sollte ein ärztlicher Ratschlag sein, der sich dann doch eher wie ein Schlag ins Gesicht anfühlte. Hätte sich Häni geschlagen gegeben, wäre diese Geschichte hier zu Ende erzählt. Seine Werke hätten es nie in eine amerikanische Galerie in Miami geschafft. Und er würde an diesem Mittwochnachmittag nicht vor einem schwarzen Porsche Taycan stehen.
Vor ein paar Tagen wurden ihm die Autoschlüssel übergeben. «Fünf Minuten später hat es mich schon geblitzt», erzählt er lachend. «Dä Sportcharre», wie er auf Berndeutsch sagt, «fägt scho no.» Ein Autokenner ist er nicht, wobei er das auch nicht sein muss. Seine Aufgabe lautet, den Porsche in ein Kunstobjekt zu verwandeln – in einen sogenannten Art Car.
Schwarz auf Schwarz
Der Porsche steht in einer dunklen Lagerhalle in Schüpfen BE, durch schmale Fenster dringt von weit oben nur wenig Licht. Hell und Dunkel sind Hänis Instrumente. Mit einem schwarz-glänzenden Lackstift kniet er vor dem matt-schwarzen Autoheck. Schwarz auf Schwarz – Häni arbeitet meist nur mit einer Farbe, nutzt Kontraste und Schattierungen. Diese Technik wurde zu seinem Markenzeichen und hat ihm eine aussergewöhnliche Karriere beschert.
Diese beginnt in Zuzwil BE, «in einem Dorf mit mehr Kühen als Einwohnern», witzelt der Künstler. Dort wächst Häni auf und besucht die Schule. Kunst interessierte ihn nicht. «Diese Typen sind ja alle schon tot», dachte er, während sein Lehrer über Picasso oder Paul Klee referierte und er Buchstaben auf einen Zettel kritzelte.
Eines Tages drückt ihm ein Freund eine Spraydose in die Hand. Häni beginnt zu taggen und malt seine Schriften an Wände – natürlich immer legal, wie er gern betont. Über die Jahre entwickelt er eigene Hieroglyphen, mit denen er nun auch den Porsche überdeckt. Am geschlossenen Kofferraum setzt er mit dem Lackstift an und legt los. Seine Bewegungen sind schnell, schwungvoll, «freestyle», wie er sagt. Auch in seinem Leben, könnte man sagen, war so einiges «freestyle».
Am Anfang war der Tod
Nach einer Lehre als Polydesigner 3D macht er sich 2017 selbständig. Einzelne Aufträge kommen rein, so wie vom Eidgenössischen Finanzdepartement, das Erklärvideos illustriert haben möchte. Nebenbei gestaltet er für Musikerkollegen Albencover. Das Geld reicht nicht immer, manchmal macht Häni im Restaurant eines Freundes Antipasti, damit er die Rechnungen bezahlen kann.
Doch allmählich spricht sich sein Talent herum, und Häni widmet sich zunehmend der Kunst. Zugleich nutzt er Social Media, um seine Werke zu verbreiten. Sein erstes Bild auf Instagram zeigt einen Schädel. Am Anfang war der Tod, könnte man meinen. Doch für Häni ist es eine Wiedergeburt, vom Polydesigner nun definitiv zum Künstler. Er gibt sich den Künstlernamen Vierwind und lässt sich treiben, so wie ein Segelschiff, das je nach Windrichtung den Kurs ändert.
So landet er in Marokko und malt für ein Festival einen Löwen, der zehn Meter gross ist. Oder er gelangt nach Amerika, wo er Schriftzüge für die Outlawz entwirft, eine Rapcrew, der einst auch Tupac angehörte. Dann findet er wieder den Weg zurück nach Bern und bildet für das Naturhistorische Museum den Kot eines T-Rex nach. Vierwind ist viel unterwegs. «Wäre ich nur im Atelier, würde ich eingehen», sagt er.
«Bügle» im Bunker
Manchmal zieht er sich aber doch in den «Bunker» zurück, wie er sein Atelier nennt. Dort entstehen seine Bilder, die meist zwei Elemente enthalten – ein Motiv und einen Schriftzug. Das kann eine vakuumierte Rose sein, mit der Aufschrift «Forever Young» (Für immer jung). «Durch die Bilder spreche ich zu mir selbst», sagt Häni. Als ein Freund verstirbt, malt er eine Fregatte, die durch einen Sturm segelt.
Wenn er aber über seine Kunst redet, spricht er vom «Bügle». Häni gibt sich bodenständig, als «gmögige Typ», was besonders in der Schweiz gut ankommt. Doch wenn er als Vierwind das Atelier verlässt, um ein «verrücktes Projekt» anzugehen, zeigt sich eine wilde Seite. «Vierwind ist ein Teil von mir, aber auch eine Showfigur», sagt er.
Es scheint, als widme sich der Künstler einfach jenen Projekten, die ihn anziehen. Häni macht, was er will. Vielleicht ist es sein Erfolgsrezept – die eigenen Träume nicht aufzugeben, selbst wenn der Arzt anderer Meinung ist.