Professor Poirier setzt das Skalpell knapp unterhalb des Schlüsselbeins an. Mit einem sauberen Schnitt öffnet er den Körper des Toten, der auf einem mit Blech beschlagenen Tisch liegt, den Nacken durch eine hölzerne Stütze fixiert.
«Ein unglaubliches Bild», sagt Marta Dziewańska (41), Kuratorin des Kunstmuseums Bern. Neben und hinter ihr hängen national bekannte Meisterwerke von Albert Anker (1831–1910), doch Dziewańska hat nur Augen für das Bild von Annie Stebler-Hopf, gemalt ungefähr im Jahr 1898 in Paris. «Ich hoffe, dass die Schweiz diese Künstlerin entdecken wird und sie den Platz bekommt, den sie verdient», sagt sie.
Gut möglich, dass Dziewańska genau das erreichen wird. Im Juli 2023 plant sie eine grosse Einzelausstellung im Kunstmuseum Bern mit Werken der bis heute praktisch unbekannten Künstlerin, von der biografisch einzig ein paar Eckdaten bekannt sind. 1861 in Thun BE geboren. Ausbildung in Berlin, dann Privatunterricht in Paris, weil Frauen an der Kunsthochschule nicht zugelassen sind. In Paris lebt sie mit der Schweizer Malerin Ottilie W. Roederstein (1859–1937) als Liebespaar zusammen. 1890 Umzug nach Zürich, wo sie 1918 stirbt.
Die vergessene Thuner Meisterin Annie Stebler-Hopf und die polnische Kuratorin Marta Dziewańska: zwei Frauen aus zwei verschiedenen Epochen – deren Wege sich vor drei Jahren im Depot des Kunstmuseums Bern auf wundersame Weise kreuzten.
Dziewańska war 2019 aus Polen in die Schweiz gezogen, um ihre Stelle als Kuratorin im Kunstmuseum Bern anzutreten, nachdem sie zuvor elf Jahre Kuratorin und Forschungsleiterin des Museum of Modern Art in Warschau gewesen war. Die erste Aufgabe, die ihr Kunstmuseumsdirektorin Nina Zimmer in Bern gab: drei Ausstellungen aus der riesigen Sammlung des Berner Kunstmuseums zu konzipieren. Inhaltlich hatte Dziewańska freie Hand.
Über 50’000 Werke lagern in den Depots, es ist eine international bedeutende Sammlung. Die Publikumsmagnete des Hauses sind die grossen Schweizer Meister: Ferdinand Hodler, Arnold Böcklin, Cuno Amiet, Albert Anker, Paul Klee. Männer. Doch Dziewańska wollte nicht einfach ein paar Klassiker neu arrangiert an die Wände hängen, obwohl der Erfolg beim Publikum garantiert gewesen wäre. «Ich wollte mir die Sammlung eingehend mit meinem Blick von aussen anschauen.»
Also begann sie sich in den beiden Depots in die Sammlung einzuarbeiten. Schaute Werk um Werk an. Wochenlang. Monatelang. «Ich musste ganz genau hinsehen, weil ich über die Schweizer Kunstgeschichte nicht viel wusste. Das war ein Vorteil.»
Elektrisiert von den Bildern
Es war ein technischer Mitarbeiter des Museums, Martin Schnidrig, der die Aufmerksamkeit der polnischen Kuratorin schliesslich auf Stebler-Hopf lenkte. Ein Jahr zuvor hatte eine entfernte Verwandte dem Museum zwölf Bilder aus dem Nachlass der Künstlerin geschenkt. Diese warteten noch darauf, archiviert und fotografiert zu werden, als Dziewańska sie entdeckte: «Ich sah die Bilder und war elektrisiert.»
Auch wenn die von Stebler-Hopf gewählten Themen wie Landschaftsbilder oder Stillleben typisch für ihre Epoche sind: Die Intensität der Farben und wie sie mit verschiedenen Stilen experimentierte, hebe sie laut Dziewańska von den meisten ihrer männlichen Zeitgenossen ab – und machten sie zu etwas ganz Besonderem.
Stebler-Hopf malte Landschaftsbilder in den Schweizer Alpen, wie das Gemälde «Märjelensee».
Sie malte Porträts und lieblich anmutende Bilder von Frauen, wie das Bild «Morgentoilette». Doch sie ging auch in Leichenhallen, wo das Gemälde «Am Seziertisch» entstand, und Schlachtereien und malte Bilder von grosser Brutalität.
«Männer in dieser Zeit versuchten der Kunst ihren Stempel aufzudrücken, indem sie sich einen wiedererkennbaren Stil aneigneten», sagt Marta Dziewańska. «Annie Stebler-Hopf legte sich in ihrer Kunst nicht fest. Neugierig probierte sie sich in alle Richtungen aus.» Damit sei sie ihrer Zeit weit voraus gewesen. «Heute lassen sich viele zeitgenössische Künstler nicht durch Stile einschränken – und machen über alle stilistischen Grenzen hinweg Kunst. Stebler-Hopf tat dies schon vor 100 Jahren. Sie war eine Vorreiterin.»
Dziewańska nahm 2019 schliesslich sechs Bilder in ihre Ausstellung «Alles zerfällt» auf. Sie liess ein Werk von Annie Stebler-Hopf im Hauptsaal vis-à-vis des grossen Schweizer Meisters Ferdinand Hodler hängen, der sich zu Lebzeiten gegen die Aufnahme von Frauen an Kunstakademien einsetzte. «Das ist eine späte Rache», sagt Dziewańska lachend. Was ihr auffiel: Die Besucherinnen und Besucher hätten stark auf die Bilder von Stebler-Hopf reagiert. Auch deshalb entstand in ihrem Kopf die Idee einer Einzelausstellung.
Der Kuratorin geht es in ihrer geplanten Ausstellung auch darum, auf die Frage einzugehen, wieso es in der Kunstgeschichte so viel weniger grosse Malerinnen als Maler gibt. Ihre Antwort: Weil wir bisher zu wenig nach ihnen gesucht haben.
Suchen. Das ist es, was Dziewańska derzeit tut. Wie eine Detektivin forscht sie in Auktions- und Kunsthäusern nach weiteren Bildern. Im Kunsthaus Zürich fand sie ein einzelnes Werk, das ein Schlachthaus für Schweine darstellt. Dort sagte man ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, sie brauche es nicht zu reservieren. Das Bild sei noch nie ausgeliehen oder gezeigt worden – und stehe jederzeit zur Verfügung. Doch irgendwann stiess Dziewańska an ihre Grenzen. Sie fand nichts mehr. 25 Bilder hat sie beisammen. Zu wenig für eine grosse Ausstellung.
Deshalb hat sich das Kunstmuseum zu einem ungewöhnlichen Schritt entschieden. In einer Medienmitteilung von letzter Woche bat das Museum die Öffentlichkeit – und insbesondere Nachfahrinnen, Sammler, Institutionen aus der Kunstwelt – um Mithilfe bei der Suche nach Werken von Stebler-Hopf. «Das Ganze ist nicht einfach eine PR-Aktion. Wir sind wirklich etwas verzweifelt», sagt Dziewańska. Man merkt: Sie will diese Ausstellung unbedingt. Wieso? «Annie Stebler-Hopf ist das vergessene Element der Schweizer Kunstgeschichte. Es wird Zeit, eine Geschichte zu schreiben, die noch nie geschrieben wurde.»