50. Todestag von Jahrhundertkünstler
Luzernerin (91) sass für Picasso Modell

Der berühmte spanische Maler Pablo Picasso zeichnete Angela Rosengart (91) als junge Frau. Sie ist die Letzte in der Schweiz, die ihn gut kannte. Für uns blickt die Luzerner Kunsthändlerin zurück.
Publiziert: 06.04.2023 um 00:39 Uhr
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Angela Rosengart (91) vor den Porträts, die Pablo Picasso von ihr gezeichnet hat. Sie sagt: «Mit seinem Tod ging für mich persönlich eine Epoche zu Ende.»
Foto: Thomas Meier
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Man erkennt Angela Rosengart sofort: Der Dutt, ihren «Chignon», wie sie ihn nennt, die grosse Spiralen-Kette um den Hals, die Anmut im feinen, schmalen Gesicht – alles, was sie heute ist, ist schon da. Auf Papier. Geschaffen in den Fünfziger- und Sechziger-Jahren vom bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts: Pablo Ruiz Picasso (1881-1973). Picasso ist der Mann, der nie bei einer Stilrichtung verharrte, selbst wenn er sie – wie beim Kubismus – selbst anstiess und entscheidend vorangebracht hatte. Und dessen Bilder wie das Anti-Kriegs-Gemälde «Guernica» zu Ikonen wurden.

Dieser Mann zeichnete die Kunsthändlerin fünfmal. Schuf Meisterwerke. Was aus ihnen wurde – und das wusste sie als junge Frau noch nicht: Andenken. Und diese hängen heute neben Werken von Künstlern von Weltrang wie Klee, Matisse, Monet, Miró und Cézanne im Museum Rosengart in Luzern, das sie 2002 eröffnet hat. Nun, kurz vor Picassos fünfzigstem Todestag am 8. April, hakt sie sich bei der Museumskuratorin ein, das Haar rauchweiss, der Körper filigran wie Glas, tritt sie in kleinen Schritten vor Picassos Zeichnungen, betrachtet ihr jüngeres Ich, staunt, als sähe sie diese zum ersten Mal und sagt: «Keiner kam ihm gleich. Er war ein Ausnahmekünstler.»

Sie ist die Letzte, die ihn kannte

Angela Rosengart, 91 Jahre alt, ist der letzte Mensch in der Schweiz, der den berühmten Maler gekannt hatte. 50 Mal besuchte sie ihn in Frankreich – zusammen mit ihrem Vater, dem Kunsthändler Siegfried Rosengart (1894-1985), der ihr alles über die Kunst und den Kunsthandel beigebracht hat. Wenn Picasso guter Laune war, zeigte er den beiden seine Arbeiten. Und sie suchten aus. Für den Handel. Aber auch für die eigene Sammlung. Über dreissig Gemälde aus einem Spätwerk hängen heute an den hohen Wänden, vor allem im Erdgeschoss.

Wer war nun dieser Ausnahmekünstler? Angela Rosengart sagt: «Picasso hatte viel Charisma.» Wenn er sich in einem Raum voller Leute aufgehalten habe, habe man nur ihn gesehen. Wie ein Sog wirkte er. Sie sagt: «Als wären elektrische Strahlen von ihm ausgegangen.»

Sie lässt sich auf einer Bank nieder, im Raum nebenan hängt das Werk «Buste de femme», das Picassos ehemalige Lebensgefährtin Françoise Gilot (101) zeigt, die Gesichtszüge ernst und verzerrt. Das Gegenteil der feinen Linien bei Rosengarts Zeichnungen. Sie sagt: «Mich porträtierte er immer liebevoll.» Sie weiss: Wäre sie mehr für ihn gewesen, nicht mehr.

Sein Blick frass sie auf

1954 spazierte sie als 22-Jährige mit ihrem Vater in Südfrankreich durch das Dorf Vallauris, bei den Töpfereien, wo Picasso arbeitete. Sie plauderten und plötzlich wandte sich der Künstler an die Tochter: «Kommen Sie morgen vorbei, ich mache ein Porträt von Ihnen.» Dazu sagt sie heute: «Natürlich war ich sehr geschmeichelt!»

Anderntags sass sie in seinem Atelier auf einem Sofa. Rührte sich nicht, sagte nichts – seine einzige Anweisung. Und Picasso nahm einen Bleistift und einen Skizzenblock, fixierte sie mit seinen Augen. Sie erinnert sich: «Ich hatte das Gefühl, er röntge mich mit seinem Blick. Ich fühlte mich durchbohrt. Es war ein Blick, der mich aufgefressen hat.» Die Sitzung dauerte nur eine halbe Stunde – doch fühlte sie sich danach ausgelaugt.

Picasso war besessen von Frauen. Als Geliebte und als Motiv. Das Buch «Göttinnen und Fussabtreter», das im Februar erschienen ist, zeigt: War er einer Frau überdrüssig, wechselte er sie aus. Und: Mit jeder neuen, bedeutenden Frau an seiner Seite wechselte er seinen Malstil. Sein Muster: Anfangs malte er sie als Schönheit, Göttin, mit den Jahren verkam sie auf der Leinwand zu einem Pferd, Monster. Françoise Gilot, die einzige Frau, die ihn verliess und nicht umgekehrt, sagte in einem Dokumentarfilm einmal: «Jede Frau, die sich klassisch weiblich verhielt, sich verführen liess und unterwarf, wurde von ihm buchstäblich durch den Fleischwolf gedreht.»

Manche erholten sich nicht mehr. Marie-Thérèse Walter erhängte sich drei Jahre nach Picassos Tod. Jacqueline Roque erschoss sich zehn Jahre nach Walter. Dora Maar flüchtete sich in den Glauben. «Nach Picasso nur Gott», sagte sie einmal.

Picasso prägte sie

Angela Rosengart sagt: «Picasso machte mir nie Avancen.» Doch er prägte sie. Der «Schweizer Illustrierten» sagte sie einmal: «Ich stand stets im Schatten meines Vaters. Picasso war der erste Mann, der mich als Persönlichkeit wahrnahm – und auch so behandelte.»

Im Herbst 1972 besuchten Vater und Tochter Rosengart Picasso zum letzten Mal, die Begegnung ist wie viele andere auf Fotos im Museum verewigt: Picasso, gelber Pullover, sonnengebräunte Glatze mit weissen Haarbüscheln. «Er wirkte lebhaft wie immer», sagt sie. «Wir waren uns sicher, ihn im Frühling wiederzusehen.» Doch es kam anders. 1973 bekam er eine Grippe und starb an Lungen- und Herzversagen. Mit 91 Jahren. Der Nachwelt hinterliess er ein riesiges Erbe: 1900 Gemälde, 3200 Keramiken, 7000 Zeichnungen, 1200 Skulpturen und mehr als 20’000 Grafiken. Bei Angela Rosengart blieb eine Lücke zurück. Sie sagt: «Mit seinem Tod ging für mich persönlich eine Epoche zu Ende.»

Vortrag über Picasso: Dirk Boll, Verantwortlicher für Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts beim Auktionshaus Christie's in London, spricht über die Bedeutung von Picassos Kunstwerken für den weltweiten Kunsthandel. 15. Juni 2023, 19 Uhr, Museum Rosengart, Pilatuststrasse 10, 6003 Luzern.

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