Wilde Blumen zwängen sich selbst durch kleinste Spalten im Asphalt, wachsen, wo es kaum Wasser gibt, stemmen sich gegen Wind und Wetter. Wilde Blumen, so stellte sich Mahbube vor, das sind Frauen in Afghanistan. Frauen, die in ihren Wohnungen und Häusern festsitzen wie in einem Gefängnis. Ohne Perspektive. Nur weil die Taliban ihnen verbieten, in die Schule zu gehen oder an der Universität zu studieren. Frauen, die nur einen Wunsch haben: Bildung. Und sich diesen erfüllen. Komme, was wolle. Mahbube hat sie über Videocall kennengelernt.
Die Afghanin ist erst 19 Jahre alt, Geflüchtete und hat in Zürich das Hilfswerk «Wild Flower» initiiert. Über 50 Freiwillige unterrichten von hier aus afghanische Mädchen und Frauen zwischen 11 und 50 Jahren. Per Videocall. Das Angebot sprach sich rasch herum. Die Nachfrage ist riesig. Mit drei jungen Frauen fing es vergangenen Herbst an, nun sind es bereits 96 Schülerinnen aus dem ganzen Land. Sie büffeln Mathematik, Informatik, Französisch, Englisch und Deutsch. Mit diesem Andrang habe sie nicht gerechnet, sagt Mahbube. Es bestätige aber nur, was sie schon gewusst habe: «In Afghanistan werden Frauen nicht wie Menschen behandelt.»
Frauen verschwinden aus der Öffentlichkeit
2021 kamen die Taliban in Afghanistan an die Macht. Frauen dürfen nun nur noch in Begleitung eines Mannes einkaufen gehen, Bus fahren oder in einem Park spazieren. Verboten sind grössere Frauen-Versammlungen genauso wie Abbildungen von ihnen auf Plakaten. Schulunterricht für Mädchen gibt es nur noch bis zur 7. Klasse, ein Studium nicht mehr. Der gerade erschienene Uno-Geschlechter-Länderbericht zu Afghanistan zeigt: 1,1 Millionen Mädchen sind vom Schulverbot betroffen, über 100'000 Frauen vom Studienverbot. Die Folge: Sie haben keine berufliche Zukunft, werden viel zu früh verheiratet, bekommen viel zu jung Kinder und sterben eher bei der Geburt. Das Risiko der Müttersterblichkeit ist laut dem Bericht um 50 Prozent höher als vor der Machtergreifung.
Initiativen aus der Schweiz wollen dem durch Online-Unterricht entgegenwirken. Darunter «Wild Flower» und die Afghan University of Medical Sciences (AUMS) – die erste medizinische Hochschule, die aus dem Ausland aufgebaut wurde.
Eine wilde Blume, das ist auch Mahbube. Sie lebt mit ihren Eltern und den drei Geschwistern in Zürich. Wir treffen sie in einem Szene-Café bei ihr um die Ecke. Mom-Jeans, weiss lackierte Fingernägel, silberne Ohrringe – Mahbube sieht aus wie eine typische junge Städterin, ist aber ganz und gar untypisch. Ihre erste Flucht erlebte sie als Baby. Die Eltern verliessen damals aus politischen Gründen Afghanistan und gingen mit dem Kind in den Iran nach Teheran. Auch dort war die Familie nicht sicher. Nach Jahren mussten sie wieder fliehen, diesmal über Griechenland und die Türkei in die Schweiz. Hier lebt Mahbube nun seit bald drei Jahren, geht aufs Gymnasium – und spricht Mundart. Darauf angesprochen, zuckt sie mit den Schultern und sagt: «Ich mag es sehr, Neues zu lernen.»
Sie kann dem Leid nicht zusehen
Die junge Frau könnte sich jetzt nur auf ihre Zukunft konzentrieren, auf das Medizinstudium, das sie anstrebt. Sie winkt ab. Sie denkt an die vielen Möglichkeiten, die sie hat, Gleichaltrige in Afghanistan aber nicht. Sie sagt: «Das ist unerträglich. Ich kann da nicht einfach zusehen.» Es ist nicht das erste Mal. Schon im Asylcamp in Griechenland, wo sie Zuflucht fand, gab sie Flüchtlingskindern Englischunterricht. Auf Eigeninitiative. Das Gleiche tut sie nun aus der Schweiz heraus. Und zeigt, wie viel man mit wenig Mitteln erreichen kann. Die Frauen vor Ort brauchen für den Unterricht nur ein Handy. Oft haben sie kein Geld für das Internet. Mahbubes Lösung: Ihre Helferinnen in der Schweiz laden die Prepaidkarten der afghanischen Schülerinnen an einem SBB-Billettautomaten auf. 20 Franken reichen für einen ganzen Monat Internet.
«Wild Flower» ist vorsichtig. Die Organisation schaut, dass nie mehr als vier Schülerinnen gleichzeitig an einem Unterrichts-Call teilnehmen. Sollten die Behördenkontrollen auf eine der Frauen stossen, die gerade im Unterricht ist, sieht es aus wie ein Privatgespräch. Sie können sich damit herausreden, sie seien Freundinnen, die sich zum Quatschen treffen.
Familien stellen sich in den Weg
Grösser als die Taliban ist ein anderes Problem: die Familien. Mahbube sagt: «Viele wollen nicht, dass die Frauen sich bilden.» Sie müssten es verheimlichen. Kommen nur dann zum Unterricht, wenn die Männer der Familie bei der Arbeit sind. Sind sie nicht vorsichtig, kann das böse Folgen haben. Das erfuhr Mahbubes Schwester. Diese unterrichtete gerade eine Schülerin, als deren Vater ins Zimmer kam, er schlug sofort auf seine Tochter ein, als er begriff, was sie da tat. «Das war ein Schock», sagt Mahbube. Sie klärt nun mit jeder neuen Schülerin deren Situation ab: Hat sie ein eigenes Handy? Ist die Familie einverstanden? Gibt es Tageszeiten, die ungünstig sind?
«Wild Flower» ist nicht Mahbubes letztes Projekt. Bald beginnt sie, in Schweizer Asylzentren die Männer über Frauenrechte aufzuklären. Sie selbst machte dort schlechte Erfahrungen. Als sie ohne Kopftuch vor die Tür wollte, drohten ihr geflüchtete Afghanen mit dem Tod. «Das ist mir richtig eingefahren», sagt sie. Für sie steht fest: In der Schweiz sollen afghanische Geflüchtete so leben dürfen, wie sie wollen, frei von jeglicher Doktrin, Männer wie Frauen. So wie sie selbst. In der Schweiz fühle sie sich zum ersten Mal richtig frei und daheim, sagt sie. «Endlich habe ich eine Heimat gefunden.»