«Na, welches Programm wollen wir?» Michael Decker wischt über den Touchscreen, ein Fernsehsender nach dem anderen ploppt auf. «Oder lieber Internet?» Der Mercedes-Ingenieur tippt auf dem Schirm herum, als plötzlich ein Auto auf unsere Spur wechselt. Bremsen? Lenken? Decker am Steuer guckt nicht mal hoch. Weil die S-Klasse selbst bremst und einfach weiterfährt.
Sonst fetzen hier Mercedes-Prototypen mit vollem Tempo entlang, heute bleibts auf dem Testoval in Immendingen (D) gleich hinter der Schweizer Grenze bei Tempo 60. Dafür fahren wir freihändig. Ab kommendem Herbst sollen die Serienmodelle der Mercedes S-Klasse optional autonomes Fahren nach Level 3 beherrschen. Das ist eine Zwischenstufe auf dem Weg zum hoch automatisierten Fahren. Unter bestimmten Bedingungen darf man die Hände vom Steuer nehmen und TV schauen oder lesen – aber man muss jederzeit bereit sein, um wieder einzugreifen und die volle Verantwortung zu übernehmen.
Technik erlaubts, Gesetze nicht
Als Audi 2017 den aktuellen A8 lancierte, sollte der Level 3 beherrschen. Konnte er auch. Durfte er aber nicht. Seit dem Wiener Übereinkommen der Vereinten Nationen über den Strassenverkehr von 1968 gilt: Ein Autofahrer muss jederzeit volle Kontrolle über sein Fahrzeug haben und trägt dafür die Verantwortung. Seit 1992 auch in der Schweiz – damals trat sie dem Übereinkommen bei. Hände weg vom Steuer auf Level 3 war rechtlich also nicht erlaubt, auch wenns technisch längst möglich war.
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Doch jetzt hat sich das Blatt gewendet. Ab 1. Januar 2021 erlaubt die Wirtschaftskommission für Europa (Unece, erarbeitet u. a. Vorschriften für Kindersitze) das automatisierte Fahren nach Level 3. Allerdings nur auf Strassen, die für Velofahrer und Fussgänger gesperrt sind und baulich getrennte Fahrstreifen haben – also Autobahnen. Und nur für Fahrzeuge bis acht Plätze und nur bis 60 km/h, also im dichten Verkehr oder im Stau.
Hält die Rettungsgasse frei
Das lässt sich in Immendingen simulieren. Zuerst lenkt Ingenieur Decker die S-Klasse selbst, und ein ganzes Benz-Rudel rollt vor, hinter und neben uns mit, mit unterschiedlichem Tempo auf wechselnden Fahrbahnen. Knapp unter Tempo 60 übergibt Decker per Knopfdruck am Lenkrad an den Autopiloten und beginnt, am Touchscreen zu spielen. Kameras schauen jetzt nach vorn und hinten, in den Fahrzeugecken stecken Lidar-Lasersensoren für Abstands- und Tempomessung.
Auf der Mittelspur zieht die S-Klasse von selbst an den rechten Rand. «Rettungsgasse – die muss man bei langsamem Tempo freihalten», sagt Decker. Links würde das Auto von alleine nach links rücken. Vor uns bummelt einer mitten auf der Linie – die S-Klasse irritierts nicht. Knapp vor uns wird eingeschert – kein Problem. Panik in den Augen, die Finger in die Haltegriffe gekrallt? Nein: Längst gucken wir beim Plaudern Decker an, statt verkrampft nach vorne zu starren. Funktioniert! Sogar, als von hinten ein Polizeifahrzeug mit Blaulicht und Horn kommt – die Innenkamera hats erspäht, warnt im Instrumenten-Display.
Im Notfall zum Stillstand gebremst
Sobald der Pulk schneller wird, bleibt die S-Klasse dennoch stur bei 60 km/h – mehr ist ja nicht erlaubt. Auf Knopfdruck übernimmt Decker wieder, fertig mit TV-Gucken. Spurhalter und Abstandstempomat halten das Auto weiter auf Kurs, solange Decker die Hände am Steuer lässt. Bisher wurde dazu gemessen, ob auf das Lenkrad Kraft ausgeübt wird. Fuhr man nur geradeaus, mahnte das Auto irgendwann oft grundlos «Hände ans Steuer». Neu wird per elektrischem Feld detektiert, blosses Berühren genügt.
Und wenn der Fahrer loslässt? «Dann wird er mehrfach akustisch und optisch gewarnt. Reagiert er weiter nicht, wechselt das Auto autonom auf die rechte Fahrspur und bremst zum Stillstand», sagt Decker. Zunächst wollte Mercedes einen automatischen Spurwechsel auf den Standstreifen programmieren, aber der erschien als zu gefährlich.
Was bringt nun Level 3? Definitiv Nervenschonung im Stau auf der A 1 zwischen Bern und Zürich. Aber vom wirklich autonomen Fahren nach Level 5 ist das noch weit weg.