Strom könnte in der Schweiz ab 2025 knapp werden. Damit rechnet zumindest der Bund und sorgte damit letzten Herbst für Aufsehen. Also doch kein E-Auto kaufen, weil wir dann nicht mehr fahren können? Falsch! Erst recht ein E-Auto kaufen, damit wir im Fall der Fälle noch Strom zu Hause haben.
Die Zauberformel heisst «Bidirektionales Laden». Damit werben in letzter Zeit immer mehr E-Autos. Das heisst, der Strom in der Fahrzeugbatterie kann nicht nur für den E-Motor zum Fahren genutzt werden, sondern kann auch andere Geräte mit Energie versorgen – zum Beispiel andere E-Autos oder das heimische Stromnetz.
Das E-Auto als Notstromgenerator
Der Mitsubishi Outlander Plug-in-Hybrid war eines der ersten Autos, der das konnte. In Japan sind Stromausfälle wegen der zahlreichen Erdbeben im Jahr keine Seltenheit. Der Outlander kann solche Ausfälle überbrücken, indem seine 12-kWh-Onbord-Batterie ein Haus während 24 Stunden mit Strom versorgt. Bei grösseren Katastrophen kann der Outlander mit dem als Generator dienenden Benzinmotor sogar während einer Woche Strom für einen Haushalt generieren.
Inzwischen können auch reine E-Autos Strom in beide Richtungen transferieren, zum Beispiel der Hyundai Ioniq 5 und der Kia EV6. Deren Akku kann externe Elektrogeräte mit 110- beziehungsweise 220-Volt-Wechselstrom versorgen oder bei Bedarf ein anderes Elektrofahrzeug aufladen.
Dazu haben die Ingenieure das im Auto integrierte Ladegerät zu einer Ladekontrolleinheit (Integrated Charging Control Unit) weiterentwickelt. So kann ohne eine zusätzliche Komponente bequem via Ladestecker mit bis 3,5 kW Strom aus dem Auto-Akku abgezweigt werden. Damit lassen sich eine mittelgrosse Klimaanlage oder ein 55-Zoll-TV-Gerät bis zu 24 Stunden betreiben.
Mobiler Stromspeicher
Den grössten Nutzen bringt die Funktion des bidirektionalen Ladens in Verbindung mit dem eigenen Haushalt. E-Fahrzeuge können den Strom, den sie nicht benötigen, ins Hausnetz einspeisen (V2H = Vehicle-to-Home) und so künftig auch zur Stabilisierung des Stromnetzes beitragen (V2G = Vehicle-to-Grid). VW, Audi oder Skoda bieten diese Technologie für ihre E-Modelle mit dem grossen 82-kWh-Akkupaket an. Die Technik ist in den Fahrzeugen verbaut und kann jederzeit per Update freigeschaltet werden.
Der Stromtransfer und die Kommunikation mit der Technikzentrale erfolgen über eine spezielle DC-Wallbox für bidirektionales Laden. Weiter brauchts ein Heim-Energie-Management-System. Es kennt die Anforderungen der Verbraucher, sodass es deren Stromversorgung intelligent managen kann. Damit ist zum Beispiel das Laden mit selbst erzeugtem Sonnenstrom für Besitzer einer Fotovoltaik-Anlage einfach – und das nur, wenn genug Strom vorhanden ist und er nicht anderweitig benötigt wird.
Der amerikanische Weg
In den USA wird der Ford F-150 Lightning eines der ersten Volumenfahrzeuge sein, das über bidirektionale Ladetechnik verfügt. Dabei hat die Funktion in den USA gleich einen doppelten Vorteil. Auch hier sind Stromausfälle wegen Hurricans oder Schneestürmen an der Tagesordnung. Mit dem E-Pick-up als Ersatzbatterie fürs Haus wird auch das mit Diesel oder Benzin laufende Notstromaggregat überflüssig. Damit wird selbst die Notstromversorgung nachhaltig.
Dazu sind die Amis echte Sport- und Freizeitfans, die aber auch in der Wildnis nur ungern auf Komfort verzichten. Deshalb haben sie oft einen Stromgenerator dabei, um im Outback Kaffeemaschine, Kühlschrank und Klimaanlage zu betreiben oder die Luftmatratze aufzupumpen. Bidirektional ladende E-Autos machen solche Generatoren überflüssig.
Über eine Woche autonom
Das grosse Batteriepaket des F-150 Lightning kann bis zu 131 kWh Energie speichern und bis zu 9,6 kW Leistung liefern. Mit der von Ford entwickelten «Intelligent Backup Power» und dem «Home Integration System» schaltet sich der F-150 Lightning automatisch ein, wenn das Stromnetz ausfällt. Sobald die Stromversorgung wieder funktioniert, schaltet das Notsystem automatisch wieder aufs Stromnetz um.
Ausgehend von einem durchschnittlichen US-Haushalt mit einem Verbrauch von 30 kWh pro Tag bietet der F-150 Lightning eine vollständige Stromversorgung für bis zu drei Tage – vorausgesetzt der Akku ist beim Stromausfall voll geladen. Geht man sparsam mit dem Hausstrom um, liegt gar über eine Woche drin.
Auto oder Batterie?
Die Vorteile bei unvorhersehbaren Stromausfällen mögen auf der Hand liegen. Doch in Europa dürfte der grösste Nutzen des bidirektionalen Ladens darin bestehen, dass E-Autos ins intelligente Stromnetz integriert werden. Dabei speichern sie bei Überproduktion Sonnen- und Windenergie in ihren Akkus und geben den Strom bei erhöhtem Energiebedarf wieder ins Netz ab.
Bleibt zum Schluss die Frage, ob viele es nicht lieber sehen, das eigene E-Auto stets mit vollem Akku und so jederzeit bereit zum Langstreckenstart in der eigenen Garage zu haben? Für diese Kunden ist das bidirektionale Laden uninteressant. Zumindest bis sich herausstellt, ob der Bund mit der drohenden Stromknappheit ab 2025 recht hat. Entweder wollen dann auch diese Kunden eine Reservebatterie für ihr Zuhause – oder bidirektionales Laden wird gar Pflicht, um die Stromversorgung sicherzustellen.