Tazio Nuvolari war ein wilder Hund, der wohl unerschrockenste Rennfahrer der 1930er-Jahre. Er rauchte im Rennen gerne mal eine Zigarette, trank beim Boxenstopp ein Glas Wein. Doch bei den 24 Stunden von Le Mans kaute er Kaugummi. Sein Alfa Romeo 8C 2300 hatte sich im Verlauf des Rennens ein Leck im Tank eingefangen, und obwohl Nuvolari und sein Teamkollege Raymond Sommer über eine Viertelstunde an der Box standen, konnte der Schaden nicht richtig repariert werden. Bis einer der Mechaniker auf die Idee kam, dass Kaugummi als Dichtungsmaterial am besten geeignet wäre.
Also kauten Nuvolari, Sommer und die ganze Alfa-Crew in den letzten Stunden wie wild. Trotzdem musste der Alfa acht Minuten vor dem Ende des Rennens noch einmal an die Box – und dann wurde es dramatisch, denn Luigi Chinetti, ebenfalls auf Alfa Romeo, konnte zu Nuvolari aufschliessen. Auf der letzten Runde von insgesamt 233 wechselte die Führung mehrfach, bis Chinetti von einem langsameren Konkurrenten eingebremst wurde – und Nuvolari das Rennen mit zehn Sekunden Vorsprung gewinnen konnte. Zehn Sekunden nach 24 Stunden – es sollte für Jahrzehnte die knappste Entscheidung bleiben bei diesem legendären Rennen in Frankreich.
Alfa Romeo, die Mutter von Ferrari
Ein Museum erzählt immer auch Geschichten. Das Museum von Alfa Romeo in Arese (I), in dem ich ganz alleine eine Nacht verbringen darf, erzählt mir besonders viele und vor allem schöne Geschichten. Denn keine andere Marke hat eine derart wechselvolle und glorreiche Historie wie die der Mailänder. Mindestens ein halbes Dutzend Konkurse – und heute gehört Alfa Romeo dem einst grössten Konkurrenten Fiat, den Piemontesen, diesen Turinern, dem Intimfeind.
Doch Alfa Romeo hat auch elf Siege bei der Mille Miglia errungen, zehn bei der Targa Florio, war vier Mal Gesamtsieger bei den 24 Stunden von Le Mans, zwei Mal F1-Weltmeister. Und feiert heuer seinen 110. Geburtstag. Zwar hatten es die Italiener nie so mit einer akribischen Buchführung, vielleicht konnten deshalb viele Mythen erfunden werden. Auch waren die Kilometer bei der Mille Miglia und in Le Mans lang und führten mitten durch die Nacht, sodass manch schöne Mär erzählt werden kann. Doch wahrscheinlich macht genau das Glanz und Gloria der Marke aus. Und das atme ich in meiner Museumsnacht ein, spüre ich, erlebe ich.
Ohne Alfa Romeo gäbe es Ferrari nicht. Enzo Ferrari, der mässig erfolgreiche Rennfahrer, war bei Alfa, später lange Zeit Rennleiter bei den Mailändern und sagte nach dem ersten Sieg eines seiner eigenen Fahrzeuge: «Es ist, als hätte ich meine Mutter ermordet.» Und Henry Ford, der grosse Mann der US-Autoindustrie, meinte: «Wann immer ich einen Alfa Romeo sehe, ziehe ich meinen Hut.» Und ja, man verspürt eine grosse Ehrfurcht, wenn man die weitläufigen Hallen des Museums in Arese betritt.
Lächeln – bis die Putzequipe kommt
Schon als kleiner Bub war für mich (Jahrgang 1966) der Alfa Romeo 33 Stradale (Jahrgang 1967) das schönste Auto der Welt sowie auch noch aller Zeiten. Zwar konnte man mit ihm beim Auto-Quartett nicht gewinnen – Hubraum: 1995 ccm, Leistung: 230 PS, Gewicht: 700 Kilo, Spitze: 260 km/h. Doch der Entwurf von Franco Scaglione, einem der am meisten unterschätzten italienischen Designer, ist von einer atemberaubenden Schlicht- und Schönheit, macht schwindlig. Und deshalb ist es mir klar, dass ich die Nacht neben diesem Wagen verbringen muss. Und nein, ich berühre den Alfa Romeo nicht – ich lasse mich nur von ihm berühren, ganz tief im Herzen.
Als ich um 5.15 Uhr aufwache – nicht etwa deshalb, weil mich die Schönheit neben mir so nervös macht, sondern weil die Putzequipen auffahren –, sehe ich ihm direkt in die Augen, also in die Doppelscheinwerfer, und muss lächeln. Ganz zufrieden, nur für mich.
Schon vor 80 Jahren über 220 km/h
Es ist wunderbar, wenn man das ganze Museum für sich alleine hat. Ja, ich rieche am Auspuff des 33/2 Speciale, eines wunderbaren Prototyps von Pininfarina. Ja, ich studiere die aussergewöhnliche Lackierung des Iguana ganz genau, ja, ich stehe sicher eine halbe Stunde vor dem Carabo, der die Keilform im Automobil-Design definiert hat. Und ich studiere ehrfürchtig alle Details des hellblauen 8C 2900B, des wahrscheinlich grossartigsten Fahrzeugs der 1930er-Jahre, eines Rennwagens, dem die schönsten Kleider jener Jahre angezogen wurden.
Diese so seltenen Achtzylinder kosten, wenn denn je einer auf den Markt kommt, über 20 Millionen Franken. Doch es ist nicht das viele Geld, das mich beeindruckt, sondern die Leistung der damaligen Ingenieure, die ohne Computer und Schwarmintelligenz wunderschöne wie auch technisch sehr beeindruckende Fahrzeuge konstruierten. Sein Bruder, der 8C 2900, der 1938 in Le Mans nach 16 Stunden mit dem nie mehr erreichten Vorsprung von 148 Kilometern vor dem zweitplatzierten Fahrzeug geführt hatte, war vor mehr als 80 Jahren schon über 220 km/h schnell.
Das ist auch ein Vorteil, wenn man das Museum ganz für sich hat: Man nimmt gleich noch die entsprechende Literatur mit. Und kann damit endlich Ordnung bringen in all die Giuliettas und Giulias. Wobei: Ich blieb dann an der Giulia TZ hängen. Schon als kleiner Bub war dieser Entwurf von Ercole Spada für mich das zweitschönste Auto der Welt – ich muss bald wieder eine Nacht in Arese verbringen.
BLICK-Autor Peter Ruch schreibt auch unter www.radical-mag.com über klassische Automobile – nicht nur über solche von Alfa Romeo.