«Ich weiss, sie tranken heimlich Wein und predigten öffentlich Wasser.» Über 200 Jahre alt ist der berühmte Vers des deutschen Dichters Heinrich Heine (1797–1856) – an Aktualität hat er nichts eingebüsst. Standen bei Heine einst die Kirchenoberen in der Kritik, die der darbenden Bevölkerung Wasser verordneten, aber selber feinen Wein schlürften, scheinen heute die Autobauer ein ähnlich scheinheiliges Spiel zu treiben. Denn auf der einen Seite investieren sie Milliarden in die Elektromobilität – und lancieren parallel derzeit so viele PS-starke Verbrenner wie noch selten. Wie passt das zusammen?
Springen wir zurück ins Jahr 2012: Elektroautopionier Tesla hat soeben sein erstes massentaugliches Model S auf den Markt gebracht – Vorreiter aller modernen E-Autos. Statt Anerkennung erntet Tesla aus den Chefetagen von Wolfsburg bis Detroit aber nur Gelächter. Niemals werde sich die E-Mobilität durchsetzen, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Dennoch mussten auch die grossen Hersteller bald in die zuerst ungeliebten E-Mobile investieren. Denn auch die Politik erkannte, dass die Autoindustrie nur mit gutem Zureden allein die CO₂-trächtigen Verbrennermodelle nicht aufgeben würde.
Den Wandel verpennt
Unter Stöhnen über immer tiefere CO₂-Grenzwerte kamen wenige Jahre nach Tesla die ersten Stromer der etablierten Hersteller auf den Markt. Doch die Vorwürfe an die Politik klangen nicht ab: Mehr Zeit müsse man ihnen geben, schliesslich könne man doch nicht von heute auf morgen auf Elektromodelle umschwenken. Den Vorwurf, den absehbaren (Klima-)Wandel schlicht verpennt zu haben, liess die Industrie nie zu. Als einzelner Autobauer könne man die Kundschaft doch nie für E-Autos begeistern. Ohnehin hätten Kundinnen und Kunden stets nach Benzin und Diesel, nicht aber nach Strom verlangt. Dabei bewies Underdog Tesla zum selben Zeitpunkt exakt das Gegenteil – mit Hunderttausenden Vorbestellungen für das Model 3, das noch niemand überhaupt gesehen hatte.
Doch längst weht der Wind auf Orkanstärke: In fast schon vorauseilendem Gehorsam gab ein Autobauer nach dem nächsten das vorzeitige Ende der Verbrennermodelle bekannt. Das verlangt die EU bis 2035 – will sie doch 2050 komplett klimaneutral sein. «Schaffen wir schneller!», entgegneten indes die Autobauer. Nicht nur bei den Antrieben, sondern auch beim Drumherum, von Ressourcen bis Produktion.
Sauber dank grüner Wäsche
So wird nun statt auf argentinisches Rindsleder auf recycelte Kunststoffe gesetzt, für die bestenfalls sogar Mikroplastik aus dem Ozean genutzt wird. Und wenn für die Neukarosse nicht aus Unmengen Kohlestrom erzeugter Stahl, sondern recycliertes Metall eingesetzt wird, reduziert das die CO₂-Emissionen ebenfalls. Das Problem dabei ist, dass die Autobauer an anderer Stelle wieder Fussabdrücke in den Planeten treten.
Denn natürlich sind auch E-Autos nicht per se umweltfreundlich (auch interessant: Der Mythos von den Seltenen Erden). Fakt ist jedoch: Fast alle Umweltexpertinnen rechnen Elektromodellen über ihren Lebenszyklus gesehen eine deutlich bessere Ökobilanz zu als vergleichbaren Verbrennern. Leider werden mit der E-Mobilität aber auch die Neuwagen immer grösser, schwerer, mächtiger – nicht zuletzt wegen der gigantischen Batteriepakete. Ein Vergleich: Der soeben lancierte Luxustross Mercedes EQS SUV bringt in der leichtesten Version satte 2730 Kilogramm auf die Waage. Der Vorläufer der S-Klasse, die Baureihe W 111 – Benchmark aller heutigen Luxuskarossen – wog 1959 gerade mal 1320 Kilogramm.
Weitere fette PS-Monster
Stärker, schneller, durstiger
Neben all der neuen Stromer feiern aktuell aber auch zahlreiche PS-starke Neuheiten mit Verbrenner ihren Einstand – man denke an Heinrich Heine. Besonders deutsche Premiummarken geben noch einmal richtig Vollgas: Audi zum Beispiel bringt seine Modelle RS 6 und RS 7 in neuen Versionen, «stärker und schneller» als zuvor. Doch die Leistung von 630 PS wird eben auch mit einem Normverbrauch von 12,7 Liter pro 100 Kilometer erkauft. Konkurrent BMW und seine Kraftsportsparte M GmbH bieten neuerdings zum ersten Mal überhaupt eine Kombiversion der Sportlerikone M3 an – mit 510 PS spurtet der M3 Touring in 3,6 Sekunden auf Tempo 100 und erreicht eine Spitze von 280 km/h. Wird sie ausgenutzt, gerät der Normverbrauch von über zehn Litern natürlich zur Makulatur.
Und auch den grösseren M5 soll es in der nächsten Generation als Kombi geben, Gerüchten zufolge mit dem Antriebsstrang des kürzlich gestarteten Plug-in-SUV XM ausgestattet. Dies würde eine Spitzenleistung von 748 PS und 1000 Nm Drehmoment bedeuten. Der Stuttgarter Konkurrent Mercedes dürfte allerdings auch bald mit einer AMG-Version der brandneuen E-Klasse nachziehen – beim E 63 dürfte dann unter 700 PS ebenfalls nichts gehen. Beide Fahrzeuge, M5 und E 63, dürften aber immerhin als Plug-in-Hybride kommen. Die tiefen Verbrauchswerte der genormten WLTP-Tests werden dennoch kaum im Alltag zu schaffen sein.
Nach uns die Sintflut
Die genannten Fahrzeuge sind – oder werden – technisch herausragende Autos, keine Frage. Trotzdem: Warum feiern gerade solch PS-starke Boliden derzeit eine Renaissance? Zum einen ist es eine Art letztes Aufbegehren: Bevor künftig in den Topversionen Acht- durch Sechszylinder und Sechs- durch Vierzylinder mit Elektrounterstützung ersetzt werden, gibts noch einmal die volle Leistungspackung – wie früher. Ironischerweise eröffnet gerade der Trend zur E-Mobilität dafür den nötigen Spielraum: Denn mit rund 20 Prozent reinen Stromern unter den Neuwagen in der Schweiz unterbieten die meisten Hersteller momentan locker die festgelegten CO₂-Grenzwerte, womit ein paar Verbrenner-Sportmodelle noch darunter passen.
Zum anderen gilt das klassische Huhn-Ei-Problem. Warum bieten Hersteller solche Modelle noch an? Weil es weiterhin Kundennachfrage gibt seitens der Leistungsliebhaber oder jenen, die den Elektromotoren noch nicht so recht trauen. Zumindest die Topversionen mit Plug-in-Hybridantrieben könnten aber manch Kunden überzeugen, auf ein E-Auto umzusteigen, wenn diese sehen, wie viele der Alltagswege sich nur mit Strom zurücklegen lassen.
Und schliesslich sind viele der gerade lancierten Boliden ein Abschiedsgruss. Audi beispielsweise ordnet die Modellpalette neu: Aus dem aktuellen A6 wird ein A5 mit Verbrenner, der neue A6 dafür parallel rein elektrisch. Die Stromer dürften dabei leistungsmässig ihren Verbrenner-Pendants deutlich überlegen sein. Gerade die PS-starken Boliden werden also zum Argument für den Umstieg auf Elektromobilität. Das dürfte die Zukunft sein, zumindest in den oberen Segmenten. Schon um der Preise willen, dürfte das aber kaum die Lösung für die Massen darstellen. Hier müssen insbesondere die Volumenhersteller mit kleinen, bezahlbaren Stromern nachlegen.