Die bevorstehende ukrainische Gegenoffensive ist wohl eine der am meisten analysierten Militäroperationen der Geschichte. Die Erwartungen sind entsprechend gross. Beobachter warten seit Wochen auf die grosse Panzerschlacht, die die Gegenoffensive der Ukraine einläutet. Doch die Offensive könnte schon längst im Gange sein. Das vermutet unter anderem der ETH-Militärexperte Marcus Keupp in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.
Und tatsächlich: Berichte über heftige ukrainische Gegenschläge häufen sich in den letzten Wochen. Dieses «vorbereitende Feuer» – Artillerie- und Drohnenangriffe – sind für Keupp klare Anzeichen für die erste Phase der Gegenoffensive.
Die Bewegungen und Angriffe der ukrainischen Truppen geben Aufschluss über die generelle Richtung der Gegenoffensive: Süden. Erste lokale Offensiven werden bereits durchgeführt. Eine Übersicht.
Wuhledar
Laut dem Twitteraccount OSINTdefender haben ukrainische Truppen bei der südöstlichen Stadt Wuhledar bereits mit einer lokalen Gegenoffensive begonnen. Dies bestätigen auch Daten des amerikanischen Thinktanks Institute for the Study of War (ISW).
Auch die russischen Truppen bringen sich laut dem regionalen Militärsprecher Olexij Dmitraschkowski für einen erneuten Sturm auf die Stadt in Stellung. Allein am Samstag sei die Stadt sechsmal von der russischen Luftwaffe angegriffen worden. Die Angaben liessen sich nicht unabhängig überprüfen.
Saporischschja
Etwas mehr als 100 Kilometer westlich von Wuhledar liegt Saporischschja. Die von Russland annektierte Oblast beherbergt das gleichnamige leistungsstärkste AKW Europas, was Offensiven in der Region besonders riskant macht. Wenn das AKW getroffen wird, könnte es zu einer nuklearen Katastrophe kommen, schreibt «The Times». Auch hier haben laut Analysen des ISW bereits Truppenbewegungen begonnen.
Mick Ryan, pensionierter Generalmajor der australischen Armee, stellt fest: Saporischschja wird im Mittelpunkt einer ukrainischen Gegenoffensive stehen. Und auch Ian Matveev, ein russischer Militäranalyst, bezeichnet Saporischschja als einen Schlüsselpunkt für das ukrainische Militär. Denn sobald die Oblast mehrheitlich wieder in ukrainischer Hand ist, könnten sich die Truppen entscheiden, weiter nach Melitopol vorzudringen. Von dort aus, so Matveev, könnte die Ukraine eine Offensive in Richtung Krim starten.
Krim
In den letzten Tagen und Wochen erreichten immer wieder Meldungen über Drohnenangriffe auf der Krim die Welt. Anzeichen für eine Gegenoffensive im Süden des Landes? Laut ETH-Experte Keupp ist die 2014 von Russland annektierte Halbinsel als Herzstück der Gegenoffensive ausgemacht.
Als zentrales militärisches und logistisches Zentrum wird die gesamte Südfront der Russen von der Krim aus versorgt. Keupp schlussfolgert: «Wenn dieser Raum nicht mehr zu halten ist, ist auch die gesamte Südfront nicht mehr zu halten. Und wenn die nicht mehr zu halten ist, ist auch die Donbass-Front nicht mehr zu halten.»
Bachmut
Apropos Donbass: Bachmut ist noch immer hart umkämpft. Laut dem britischen Analysten Mike Martin haben die Ukrainer dort bereits weitgehend erreicht, was sie erreichen wollten: Sie konnten die Stadt halten, während sie die Russen immer weiter zurückdrängten und ihre Ausrüstung zerstörten.
Die Söldnergruppe Wagner hat sogar ihren Abzug aus Bachmut angekündigt. Die «Operation Bachmut» habe ihren Höhepunkt erreicht. Oder in anderen Worten: Die russischen Streitkräfte sind gescheitert. Und die Ukrainer können die entstandene Schwachstelle nutzen, um auch in den Osten vorzudringen.