Die Ukrainer haben in den vergangenen Tagen den Beschuss von Zielen auf russischem Territorium intensiviert. Getroffen wurden zwei Tanklager im Süden Russlands und auch eines auf der von Russland besetzten Krim, zudem wurden zwei Güterzüge mit Explosionen zum Entgleisen gebracht.
Die Absicht: Vor der angekündigten Offensive der Ukraine, deren Beginn in diesen Tagen erwartet wird, soll die Infrastruktur der russischen Angreifer geschwächt werden.
In der Nacht auf Mittwoch sorgten auch Explosionen beim Kreml selber für Aufsehen. Laut Moskau waren es zwei abgefangene ukrainische Drohnen, deren Einsatz von den USA genehmigt worden sei. Kiew bestreitet das vehement.
Die zunehmenden Angriffe auf russisches Territorium bereiten dem Westen Sorgen. Auf keinen Fall soll Putin provoziert werden! Karine Jean-Pierre (48), Pressesprecherin des Weissen Hauses, sagte nach dem Vorfall beim Kreml: «Seit Beginn des Konflikts ermutigen oder ermöglichen die Vereinigten Staaten die Ukraine keinesfalls, jenseits ihrer Grenzen zuzuschlagen. Wir haben das von Anfang an sehr deutlich gemacht.»
Handelt die Ukraine tatsächlich auf eigene Faust? Und wie gut ist die Ukraine für die Gegenoffensive aufgestellt? Der deutsche Militärexperte Ralph D. Thiele (69) vom Institut für Strategie-, Politik-, Sicherheits- und Wirtschaftsberatung (ISPSW) in Berlin schätzt für Blick die aktuelle Lage ein.
Hilft der Westen der Ukraine bei den Anschlägen in Russland?
«Hier gibt es keine belastbaren Quellen. Immerhin hört man aus Kreisen von Spezialkräften, dass einige wenige westliche Staaten Sabotageakte auf russischem Boden nachrichtendienstlich vorbereiten helfen und unterstützen. Zugleich gibt es die Sorge, dass diese Aktionen hinreichend bedacht und massvoll erfolgen und dass hier zumindest einige ukrainische Akteure über die Stränge schlagen könnten. Die wirkliche Sorge des Westens ist eine unkontrollierte Eskalation des Konflikts.»
Wie gross ist die Gefahr einer atomaren Antwort Russlands?
«Generell besteht die Gefahr einer doppelten Eskalation – nacheinander oder zeitgleich. Vertikale Eskalation bedeutet mehr Truppen, mehr Waffen, mehr Verwüstung und Gewalt bis hin zu einem Ersteinsatz taktischer nuklearer Waffen. Horizontale Eskalation bedeutet ein Flächenbrand, der auch die Nachbarländer der Ukraine und sogar entfernte Regionen wie zum Beispiel in Afrika erfassen könnte.»
Sind die Ukrainer in der Lage, den Kreml anzugreifen?
«Die bei diesem Einsatz verwendeten Drohnen waren zu klein, um die rund 600 Kilometer weite Strecke von der Ukraine bis Moskau zu überwinden. Vermutlich wurden sie von russischem Boden aus gestartet – von wem, bleibt allerdings unbeantwortet. Immerhin hat sich aus der Ukraine vor einer Woche eine Drohne des Typs UJ-22 Airborne in Richtung Moskau auf den Weg gemacht, bevor sie offensichtlich aus Treibstoffmangel kurz vor der russischen Hauptstadt abstürzte.»
Wie ist die ukrainische Armee für die Gegenoffensive aufgestellt?
«Die Lage ist ambivalent. Die gelieferten Waffensysteme wie Panzer und Artillerie reichen für taktische – also kleinere, lokale – Offensiven. Die Munition bleibt knapp, die westlichen Vorräte sind aufgebraucht. Viele der erfahrenen ukrainischen Soldaten leben nicht mehr. Die Gegenoffensive lebt vor allem vom Informationsreichtum westlicher Nachrichtengewinnung, der ukrainischen Kampfmoral und russischen Nachlässigkeiten. Das bietet Raum für Überraschungen, ist aber keine verlässliche Grundlage für den erhofften Erfolg.»