Eine Frühjahrsoffensive der ukrainischen Streitkräfte wird bereits seit einigen Wochen erwartet. Diese soll den Durchbruch an der Front im Osten der Ukraine und weitreichende Gebietseroberungen ermöglichen.
Das Ziel der Operation: Russland soll angegriffen und geschwächt werden. Irgendwann, so die Hoffnung des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (45), soll Russland keine andere Wahl mehr haben, als am Verhandlungstisch Platz zu nehmen.
Ukraine hat wertvolles Ass im Ärmel
Doch mit der gross angekündigten Gegenoffensive der Ukrainer hapert es noch. Dringend benötigte Munitionslieferungen verzögern sich. Sogar der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow (56) hat kürzlich die Erwartungen an die geplante Offensive gedämpft und sie als «definitiv überhöht» eingestuft.
Mehrere Militärexperten weisen nun aber darauf hin, dass die ukrainischen Streitkräfte trotzdem ein wertvolles Ass im Ärmel haben. Russland gebe besonders an einem Punkt ein leichtes Ziel ab.
Moskaus Versorgungslinien von der Krim auf das Festland in der Südukraine gelten nämlich als «Lebensader» der russischen Armee. «Die Bahnverbindung vom Donbass auf die Krim ist die einzige noch einigermassen gut funktionierende logistische Verbindung für Russland in der Südukraine», betonte der Sicherheitsexperte und stellvertretender Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Christian Mölling (50), kürzlich im Stern-Podcast «Ukraine – Die Lage».
«Politisch wäre das für Russland ein Desaster»
Die zweigleisige Bahnlinie verläuft von der russischen Region Krasnodar über die Krim-Brücke auf die besetzte Halbinsel. Von dort zieht sich die Zuglinie weiter in Richtung ukrainisches Festland. Eines der Gleise verläuft in Richtung der umkämpften Stadt Cherson, das andere Richtung Militopol und von dort in den von Russland annektierten Donbass.
Ein erfolgreicher ukrainischer Angriff auf diese Versorgungslinien wäre für Moskau verheerend und würde die Streitkräfte vor ernsthafte Probleme stellen. «Politisch wäre das ein Desaster für Russland», so das Fazit Möllings.
Das sieht auch Simon Weiss, Sicherheits-Experte der Friedrich-Ebert-Stiftung, so. Er glaubt, dass die ukrainischen Streitkräfte vor allem die Krim-Brücke ins Visier nehmen werden.
«Die Eisenbahnstrecke ermöglicht einen schnellen Transport von Militärgütern bis in den Norden der Krim und somit in Frontnähe», sagt er dem «Tagesspiegel».
Angriffe könnten Russland an Verhandlungstisch zwingen
Sicherheitsexperte Mölling ist überzeugt, dass es für die Ukrainer nicht allzu schwer sein dürfte, die russische Versorgungslinie zu durchbrechen. Dafür müssten sie nur mit «einer begrenzten Anzahl an Raketenartillerie» ausgestattet werden.
Sollte es den Ukrainern tatsächlich gelingen, die russische «Lebensader» zu zerstören und dadurch die Gebiete im Süden zurückzuerobern, würde das die Ukraine in eine sehr starke Position bringen und könnte Moskau, so die Einschätzung der Experten, an den Verhandlungstisch zwingen. (ced)