Diese Meldung von der Ukraine-Front sorgte für Wirbel: Am Montagvormittag meldeten die russischen Nachrichtenagenturen Tass und Ria Nowosti einen Rückzug der russischen Armee im südukrainischen Gebiet Cherson. Doch kurz darauf war die Nachricht auch schon wieder verschwunden: Beide Agenturen verkündeten, die Meldungen seien «annulliert» worden. Es bleibt der Eindruck: Die Russen geraten zunehmend wieder unter Druck. Blick fasst zusammen, wo aktuell gekämpft wird.
Der Dnepr und Cherson
Andrij Jermak (51), Stabschef des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (45), hat publik gemacht, dass die ukrainischen Streitkräfte in der Region Cherson einen Stützpunkt am Ostufer des Flusses Dnipro haben. «Trotz aller Widrigkeiten haben die ukrainischen Verteidigungskräfte am linken östlichen Ufer des Dnipro Fuss gefasst», sagte er. Somit hat die Ukraine eine neue Angriffslinie in Richtung Krim geschaffen. «Schritt für Schritt wird die Krim entmilitarisiert», fügte Jermak in einer Rede vor dem Thinktank Hudson Institute in den Vereinigten Staaten an. «Wir haben 70 Prozent der Strecke zurückgelegt. Und unsere Gegenoffensive entwickelt sich gut.»
Die Äusserungen wurden auf der Website des ukrainischen Präsidenten veröffentlicht. Für die russische Kriegsführung ist das ein bitterer Schlag. Russlands Streitkräfte haben sich, seitdem der geplante Blitzkrieg von Belarus aus in die Hauptstadt Kiew im Frühling 2022 scheiterte, auf die Ostukraine konzentriert. Der Dnipro war auch für die russischen Streitkräfte ein wichtiger Meilenstein und hart umkämpft. Das russische Militär erklärte letzte Woche, seine Streitkräfte hätten einen ukrainischen Versuch vereitelt, einen Brückenkopf am Ostufer und auf den nahe gelegenen Inseln zu errichten. Dabei sollen sie 500 ukrainische Soldaten getötet haben.
Awdijiwka und Marjinka
Der Generalstab der Ukraine berichtete am Dienstagabend von einer Vielzahl russischer Angriffe bei Awdijiwka und Marjinka. In seiner nächtlichen Videoansprache sagte Selenski, die russischen Angriffe seien «sehr intensiv» gewesen. «Russland verliert in der Nähe von Awdijiwka bereits Männer und Ausrüstung, und zwar schneller und in grösserem Umfang als in Bachmut», sagte er und bezog sich dabei auf die monatelangen schweren Kämpfe, die im Mai in der Einnahme der östlichen Stadt Bachmut durch die russischen Streitkräfte gipfelten.
Der ukrainische Oberbefehlshaber General Walerij Saluschnyj (50) erklärte am 13. November während eines Gesprächs mit dem Vorsitzenden der US-Generalstabschefs, General Charles Brown (61), dass die Richtungen Awdijiwka, Kupjansk und Marinka am stärksten betroffen seien, wies jedoch darauf hin, dass die ukrainischen Streitkräfte ihre offensiven Aktionen in unbenannten Sektoren der Front fortsetzen – ein taktisches Manöver, das ihre Gegner im Dunkeln lässt.
In den offiziellen russischen Berichten über die Kämpfe im Osten wurde Awdijiwka nicht erwähnt, obwohl der prominente russische Kriegsblogger Rybar sagte, dass es in den Stellungen um die Stadt «einige Fortschritte» gegeben habe.
Donezk und Bachmut
Russland versucht nach Einschätzungen der Ukraine, einen militärischen Erfolg nahe der ostukrainischen Grossstadt Donezk zu erzwingen. In den vergangenen Wochen hat die russische Armee ihre Angriffe im Raum Donezk verstärkt. Selbst wenn die Verluste an Soldaten und Fahrzeugen hoch sind, setzt die Zahl der Angreifer die ukrainischen Verteidiger unter Druck.
Der Kommandeur der ukrainischen Bodentruppen, Generaloberst Oleksandr Syrskyj (58), betonte, dass die russischen Streitkräfte gleichzeitig Offensivaktionen in mehreren Richtungen durchführen und insbesondere versuchen, die Initiative nördlich und südlich von Bachmut wiederzuerlangen. Die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) geht aber davon aus, dass die russischen Streitkräfte nicht mehr die Kraft haben, totale Kontrolle über neue Gebiete zu etablieren.
Für beide Seiten könnte die Lage noch schwieriger werden: Ein unerbittlicher Winter rückt unaufhaltsam näher und wirft bereits jetzt seinen eisigen Schatten auf die entscheidenden Kriegsstrategien in der Ukraine. Sowohl russische als auch ukrainische Operationen sind durch schlechte Wetterbedingungen wie Schlamm und herabfallendes Laub gestört.
Es gibt noch ein zweites Problem: Schon seit Monaten hinterfragen westliche Beobachter die militärischen Kapazitäten der russischen Armee. Und die Ukraine sehnt sich verzweifelt nach Unterstützung aus dem Westen, nach dringend benötigten Waffen. Diese werden allerdings ausbleiben, wie der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (63) kürzlich bestätigt. Die EU wird laut ihm ihr Ziel verfehlen, der Ukraine bis März eine Million Artillerie-Geschosse zu liefern. «Die eine Million werden nicht erreicht, davon muss man ausgehen.»