Die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar wird als Wendepunkt in die Weltgeschichte eingehen. Viele sagen, sie markiere das Ende einer Ära, die 1991 mit dem Ende des Kalten Kriegs begann – die Epoche eines «freien und geeinten Europas». Die Invasion markiert das Ende des Endes der Geschichte (Anmerkung der Redaktion: Francis Fukuyama vertrat in seinem Buch «The End of History and the Last Man» 1992 die These, dass sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Liberalismus und mit ihm Marktwirtschaft und Demokratie endgültig durchgesetzt hatten).
Ivan Krastev, ein scharfsinniger Beobachter Osteuropas, sagte kürzlich in der «New York Times», dass «wir jetzt alle in der Welt von Wladimir Putin leben», einer Welt, in der schiere Gewalt die Rechtsstaatlichkeit und die demokratischen Rechte mit Füssen tritt.
Es steht ausser Frage, dass der russische Angriff Auswirkungen hat, die weit über die Grenzen der Ukraine hinausreichen. Putin hat deutlich gemacht, dass er das Territorium der ehemaligen Sowjetunion so gut wie möglich wiederherstellen will, indem er die Ukraine ins heutige Russland integriert und eine Einflusssphäre schafft, die sich über alle osteuropäischen Staaten erstreckt, die seit den 1990er-Jahren der Nato beigetreten sind.
Obwohl es noch zu früh ist, um zu wissen, wie sich dieser Krieg entwickeln wird, ist schon jetzt klar: Putin wird seine maximalen Ziele nicht erreichen. Er hatte mit einem schnellen und einfachen Sieg gerechnet und damit, dass die Ukrainer ihn wie einen Befreier behandeln würden. Stattdessen hat er in ein Hornissennest gestochen. Ukrainer aller Couleur legen ein nie da gewesenes Mass an Durchhaltewillen und nationaler Einigkeit an den Tag. Selbst wenn Putin Kiew einnimmt und Präsident Wolodimir Selenski absetzt, kann er ein wütendes Volk von mehr als 40 Millionen Menschen auf Dauer nicht mit militärischer Gewalt unterwerfen. Und er ist mit einer demokratischen Welt und einer Nato-Allianz konfrontiert, die so geeint und mobilisiert ist wie nie zuvor.
Gleichzeitig hat die gegenwärtige Krise gezeigt, dass wir die bestehende liberale Weltordnung nicht als selbstverständlich hinnehmen dürfen. Wir müssen ständig um sie kämpfen. In dem Moment, in dem wir unsere Wachsamkeit ablegen, wird sie verschwinden.
Die Probleme, mit denen die liberalen Gesellschaften heute konfrontiert sind, haben nicht mit Putin begonnen und enden auch nicht mit ihm. Wir stehen vor sehr ernsten Herausforderungen, selbst wenn er in der Ukraine gestoppt wird. Der Liberalismus wird angegriffen. Schon seit einiger Zeit. Sowohl von rechts als auch von links. Die Nichtregierungsorganisation Freedom House stellt in ihrer jährlich erscheinenden Studie dieses Jahr fest, dass die Freiheit in der Welt insgesamt nun schon 16 Jahre in Folge zurückgegangen ist. Nicht nur wegen des Aufstiegs autoritärer Mächte wie Russland und China, sondern auch wegen der Hinwendung zu Populismus, Illiberalismus und Nationalismus in langjährigen liberalen Demokratien wie den USA und Indien.
Was ist Liberalismus?
Der Liberalismus ist eine erstmals im 17. Jahrhundert formulierte Doktrin, die darauf abzielt, Gewalt durch Politik zu bändigen. Sie anerkennt, dass Menschen in zentralen Fragen uneinig sind und Mitbürger mit anderen Ansichten toleriert werden müssen.
Der Liberalismus garantiert dies, indem er gleiche Rechte für alle vorsieht und die Würde des Einzelnen respektiert und kontrolliert. Zu diesen Rechten gehören das Recht auf Eigentum und das Recht auf freien Handel, weshalb der klassische Liberalismus in der modernen Welt stark mit hohem Wirtschaftswachstum und Wohlstand verbunden wird. Darüber hinaus wird der klassische Liberalismus in der Regel mit der Ansicht assoziiert, dass die Wissenschaft uns helfen kann, die Welt zu verstehen und zu unserem eigenen Nutzen zu beeinflussen.
Viele dieser Ideen werden nun angegriffen. Populistische Konservative stossen sich an der offenen und vielfältigen Kultur, die in liberalen Gesellschaften gedeiht, und sehnen sich nach einer Zeit, in der sich alle zur gleichen Religion bekannten und dieselbe ethnische Zugehörigkeit hatten. Das liberale Indien von Gandhi und Nehru wird von Indiens Premierminister Narendra Modi in einen intoleranten Hindu-Staat verwandelt; in den USA wird der weisse Nationalismus in Teilen der Republikanischen Partei offen gefeiert. Populisten ärgern sich auch über Einschränkungen durch Gesetze und Verfassungen: Donald Trump weigerte sich, das Ergebnis der Wahl von 2020 zu akzeptieren, und ein gewalttätiger Mob versuchte, das Kapitol zu stürmen.
Auch Linke stellen die liberalen Werte der Toleranz und der freien Meinungsäusserung infrage. Viele Progressive sind der Meinung, dass die liberale Politik mit ihren Debatten und der Konsensbildung zu langsam ist und dass sie bei der Beseitigung der wirtschaftlichen Ungleichheiten und des Rassismus, die durch die Globalisierung entstanden sind, schmerzlich versagt hat. Sie sind bereit, im Namen der sozialen Gerechtigkeit die Redefreiheit und die Rechtsstaatlichkeit einzuschränken.
Die antiliberale Rechte und die Linke reichen sich in ihrem Misstrauen gegenüber Wissenschaft und Fachwissen die Hand: Auf der Linken stellt eine Denkrichtung vom Strukturalismus des 20. Jahrhunderts über die Postmoderne bis hin zur zeitgenössischen kritischen Theorie, die Autorität der Wissenschaft infrage. Der französische Denker Michel Foucault vertrat die Ansicht, dass schattenhafte Eliten die Sprache der Wissenschaft benutzen, um die Unterjochung von Randgruppen wie Homosexuellen, psychisch Kranken oder Inhaftierten zu verschleiern. Das gleiche Misstrauen gegenüber der Objektivität der Wissenschaft ist nun auch auf die extreme Rechte übergeschwappt, wo sich die konservative Identität zunehmend mit Skepsis gegenüber Impfstoffen, Gesundheitsbehörden und Fachwissen im Allgemeinen deckt.
Gleichzeitig trug die Technologie dazu bei, die Autorität der Wissenschaft zu untergraben. Das Internet wurde zunächst gefeiert. Doch die neue Welt hatte auch ihre Schattenseiten, denn böswillige Akteure von Russland bis zu QAnon-Verschwörungstheoretikern nutzten diese neue Freiheit, um Desinformationen und Hassreden zu verbreiten. Diese Trends wurden wiederum durch das Eigeninteresse der grossen Internetplattformen begünstigt.
Wie sich der Liberalismus zu etwas Illiberalem entwickelt hat
Wie sind wir an diesen Punkt gekommen? In dem halben Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen breiten und wachsenden Konsens zur liberalen Weltordnung. Das Wirtschaftswachstum nahm zu, und die Armut ging zurück, da die Länder die Vorteile einer offenen Weltwirtschaft nutzten. Dazu gehörte auch China, dessen moderner Wiederaufstieg durch seine Bereitschaft ermöglicht wurde, intern und extern nach liberalen Regeln zu spielen.
Doch der klassische Liberalismus wurde im Laufe der Jahre neu interpretiert und entwickelte sich zu Tendenzen, die sich letztlich als selbstzerstörerisch erwiesen. Auf der rechten Seite wandelte sich der Wirtschaftsliberalismus der frühen Nachkriegsjahre in den 1980er- und 1990er-Jahren zu dem, was manchmal als «Neoliberalismus» bezeichnet wird. Liberale wissen um die Bedeutung freier Märkte – aber unter dem Einfluss von Ökonomen wie Milton Friedman und der Chicago School wurde der Markt vergöttert und der Staat zunehmend als Feind von Wirtschaftswachstum und individueller Freiheit verteufelt. Demokratien begannen im Bann der neoliberalen Ideen mit dem Abbau von Wohlfahrtsstaaten und Regulierungen – und rieten den Entwicklungsländern im Rahmen des «Washington Consensus», das Gleiche zu tun. Die Kürzungen beseitigten die Puffer, die Einzelne vor den Unwägbarkeiten des Marktes schützen. Das führte in den letzten zwei Generationen zu einem starken Anstieg der Ungleichheit.
Die Rechte schätzte die wirtschaftliche Freiheit und trieb sie zu unhaltbaren Extremen. Die Linke hingegen konzentrierte sich aufs Individuum, selbst wenn dies auf Kosten der Gemeinschaft ging. Gleichzeitig begannen Anhänger der kritischen Theorie zu argumentieren, der Liberalismus selbst sei eine Ideologie, hinter der sich die Eigeninteressen von Männern, Europäern, Weissen und Heterosexuellen verbergen würden.
Sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken wurden grundlegende liberale Ideen ausgehöhlt. Wirtschaftliche Freiheit entwickelte sich zu einer staatsfeindlichen Ideologie und persönliche Autonomie zu einer «woken» progressiven Weltanschauung, die «Diversity» über die Gemeinschaft stellte.
Niemand schätzt den Liberalismus mehr als Menschen, die in einer illiberalen Welt leben. Sie entstand nicht zufällig in Europa nach 150 Jahren unablässiger Religionskriege, die auf die Reformation folgten. Sie erlebte nicht zufällig eine Wiedergeburt in der Folge der zerstörerischen nationalistischen Kriege in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Einen nochmaligen Schub erhielt die Idee zwischen 1989 und 1991, als die vormals unter dem Kommunismus lebenden Menschen die Freiheit erlangten, ihre eigene Zukunft zu gestalten.
Seit dem Fall der Berliner Mauer ist jedoch mehr als eine Generation vergangen, und die Vorzüge des Lebens in einer liberalen Welt sind für viele selbstverständlich geworden. Die Erinnerung an zerstörerische Kriege und totalitäre Diktaturen ist verblasst, insbesondere bei jüngeren Menschen in Europa und Nordamerika. In dieser neuen Welt wird die EU, der es auf spektakuläre Weise gelungen ist, Krieg in Europa zu verhindern, von vielen Rechten als tyrannisch angesehen, während Konservative argumentieren, dass die von der Regierung verordnete Pflicht, Masken zu tragen und sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, mit Hitlers Behandlung der Juden vergleichbar sei. So etwas kann nur in einer sicheren und selbstgefälligen Gesellschaft geschehen, der die Erfahrung einer echten Diktatur fehlt.
Für viele ist der Liberalismus wenig inspirierend. Eine Doktrin, die Toleranz gegenüber unterschiedlichen Ansichten anmahnt, befriedigt diejenigen nicht, die sich eine starke Gemeinschaft wünschen, die auf gemeinsamen religiösen Weltansichten, gemeinsamer ethnischer Zugehörigkeit oder langwährenden kulturellen Traditionen beruht.
In diese Lücke sind illiberale, autoritäre Regime getreten. Die Regime Russlands, Chinas, Syriens, Venezuelas, Irans und Nicaraguas haben nur wenig gemeinsam, ausser dass sie die liberale Demokratie ablehnen und ihre eigene autoritäre Macht erhalten wollen. Sie haben ein Netzwerk geschaffen.
Im Zentrum dieses Netzwerks steht Putins Russland, das praktisch jedes Regime, das sich gegen die USA oder die EU stellt, mit Waffen, Beratern, militärischer und nachrichtendienstlicher Unterstützung versorgt. Dieses Netzwerk reicht bis in das Herz der liberalen Demokratien selbst. Rechtspopulisten bringen ihre Bewunderung für Putin zum Ausdruck, angefangen beim ehemaligen US-Präsidenten Trump, der Putin nach seinem Einmarsch in der Ukraine ein «Genie» und «sehr klug» nannte. Populisten wie Marine Le Pen und Éric Zemmour in Frankreich, Matteo Salvini in Italien, Jair Bolsonaro in Brasilien, die Führer der AfD in Deutschland und Viktor Orban in Ungarn haben allesamt ihre Sympathie für Putin bekundet, einen «starken» Führer, der entschlossen handelt, um traditionelle Werte zu verteidigen, ohne sich um Kleinigkeiten wie Gesetze und Verfassungen zu scheren. Die liberale Welt hat in den vergangenen zwei Generationen die Gleichstellung der Geschlechter und die Toleranz gegenüber Schwulen und Lesben enorm befördert, was einige auf der Rechten dazu veranlasst hat, männliche Stärke und Aggression als Tugenden zu verehren.
Der Geist von 1989 ist nicht tot
Der Krieg in der Ukraine geht uns alle an. Die russische Aggression und der Beschuss friedlicher ukrainischer Städte haben den Menschen auf eindringliche Weise vor Augen geführt, was die Folgen einer illiberalen Diktatur sind.
Das Heldentum der Ukrainer, die verzweifelt gegen einen übermächtigen Feind kämpfen, hat Menschen in aller Welt inspiriert. Präsident Selenski ist zum strahlenden Anführer geworden, der nicht nur im übertragenen, sondern auch im realen Leben mutig handelt und eine zuvor zerrissene Nation einte. Städte in aller Welt haben sich mit blau-goldenen ukrainischen Flaggen geschmückt und materielle Unterstützung zugesagt.
Im Gegensatz zu Putins Absichten ist die Nato stärker denn je, und Finnland und Schweden denken nun über einen Beitritt nach. Die bemerkenswerteste Veränderung hat sich in Deutschland vollzogen, das zuvor Russlands grösster Freund in Europa war. Mit der Ankündigung einer Verdoppelung des deutschen Verteidigungshaushalts und der Bereitschaft, Waffen an die Ukraine zu liefern, hat Bundeskanzler Olaf Scholz die jahrzehntelange Gewissheiten der deutschen Aussenpolitik aufgegeben und sein Land in den Kampf gegen Putins Imperialismus geführt.
Obwohl es schwer vorstellbar ist, wie Putin seine Ziele eines Grossrusslands erreichen könnte – vor uns liegt noch ein langer und steiniger Weg. Die Angriffe auf den Liberalismus werden nicht enden, selbst wenn Putin verliert. China wird in den Startlöchern stehen, ebenso wie der Iran, Venezuela, Kuba und die Populisten der westlichen Welt. Aber wir lernen gerade, was der Wert einer liberalen Weltordnung ist und dass sie nicht überleben kann, wenn Menschen nicht für sie kämpfen und sich gegenseitig unterstützen. Die Ukrainer haben mehr als jedes andere Volk gezeigt, was wahre Tapferkeit ist, und dass der Geist von 1989 lebendig geblieben ist. Nun muss ihn auch der Rest von uns wiedererwecken.
Francis Fukuyama, 2022, «Putin's war on the liberal order». Verwendet unter Lizenz der «Financial Times». Alle Rechte vorbehalten.