Der ukrainischen Armee gelang ein weiterer Erfolg. In den vergangenen Tagen kesselte sie Lyman ein. Die Stadt liegt im Norden der Oblast Donezk und ist strategisch bedeutend: Hier verzweigen sich drei Eisenbahnlinien, über die Russlands Armee bisher ihren Nachschub transportierte.
Nach ukrainischen Angaben waren in Lyman 5000 russische Soldaten stationiert, andere Quellen sprechen von mehr als 1000. Fakt ist: Noch nie wurden in diesem Krieg so viele Soldaten eingekesselt.
Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums verkündete gestern, man habe sämtliche Streitkräfte aus Lyman abgezogen. Möglicherweise gelang vereinzelten die Flucht, unwahrscheinlich ist allerdings, dass alle Soldaten einer Gefangennahme entkamen – der Befehl zum Rückzug kam spät.
Eigentlich wäre genügend Zeit dafür geblieben. Warum hielten die Russen trotzdem die Stellung?
Putin nimmt die Zügel selbst in die Hand
Der Entscheid könnte direkt im Kreml gefallen sein. Der Misserfolg beim Angriff auf die Hauptstadt Kiew veranlasste Präsident Wladimir Putin, selbst Befehle zu erteilen. Es scheint daher nicht abwegig, dass Putin selbst den Befehl zum Verbleib der Truppen in Lyman fällte.
«Kein Schritt zurück» als letzter Schlachtruf, das weckt Erinnerungen an Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 1941. Damals übernahm Josef Stalin die Kontrolle über die sowjetische Armee – mit fatalen Folgen. Der Diktator, militärisch unerfahren und vom Angriff überrascht, befahl: «Keinen Schritt zurück», was zu enormen Verlusten führte. Die drohten nun auch den Russen in Lyman. Zahlen sind nicht bekannt.
Der ukrainische Erfolg folgte unmittelbar auf Putins Annexion der Oblaste Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja durch die Russische Föderation. Doch die ukrainischen Streitkräfte kontrollieren noch immer grosse Teile von Donezk und Saporischschja sowie einige Gebiete von Luhansk und Cherson. Und seit September kommen immer weitere befreite Landstriche dazu.
Auch Lyman liegt auf dem Gebiet, das Putin nun als Teil der Russischen Föderation betrachtet. Mit dem Fall der Stadt Lyman können die ukrainischen Truppen weiter in die nun als russisch deklarierte Region vorrücken. Dies weckt neue Ängste vor dem Einsatz taktischer Atombomben durch Putin: Mit der Annexion hat er die Voraussetzung geschaffen, um im Einklang mit der russischen Militärdoktrin einen Atomschlag anzudrohen. Dieser Strategie zufolge muss man russisches Territorium «mit allen Mitteln» verteidigen.
Experte noch nicht beunruhigt
Russlandkenner Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, gibt allerdings Entwarnung: «Die Drohung mit einem Atomwaffeneinsatz ist selbst schon die Waffe.» Einen atomaren Erstschlag im Westen der Ukraine hält Schmid für wenig plausibel: Kiew gelte aus Sicht der auch von Putin immer wieder beschworenen grossrussichen Ideologie als Mutter aller russischen Städte – er werde wohl kaum zerstören, was er als historisches Erbe betrachte.
Laut Schmid bleibt dem Herrscher in Moskau als Ausweichziel nur noch Lwiw in der Westukraine. Auch diese Stadt hält er für ein unwahrscheinliches Ziel, da sie nicht von militärischem Nutzen sei. So gesehen, sei nur ein Atomschlag gegen ukrainische Soldaten an der Frontlinie sinnvoll. Dort wiederum liegt Territorium, das Putin neuerdings als Teil Russlands betrachtet. Eine nukleare Explosion würde auch Menschen treffen, die der Präsident in seiner Annexionsansprache «Brüder und Schwestern» nannte.
Dennoch: Die Lage bleibt instabil – und extrem gefährlich. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nannte Putins aktuelles Vorgehen die schwerste Eskalation seit Beginn der Invasion. Offen bleibt, wie die russische Bevölkerung auf die neue Lage reagiert.